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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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ihr nur so über den Tanzboden – so ein Ding, eine Tribüne im Freien, mußte seinerzeit in der Harzstadt demnach noch im Schwang gewesen sein – »geschwoft«; ein Wort, das gar nicht zu ihrem balkanisch angehauchten Geburts- wie Sterbedorf paßte.
    Er blieb »ihr« (der Fremden) und später, in jener Nacht an der Morawa, auch »euch« (uns anderen) Tage um Tage in der mitteldeutschen Kleinstadt, ohne daß sich – war das nicht die Formel aus alten Romanen? – etwas Berichtenswertes ereignete. (Das traf allerdings nicht ganz zu, gegen Ende seines Harzaufenthalts, das nahm er wieder vorweg, gab es doch das eine und andere kleine, nein, nichts war da, siehe oben, klein oder groß, äußere Begebnis.) Und trotzdem staunte er da, wo es eigentlich kaum etwas zum Staunen gab, all die Zeit nicht wenig – kam bis zu seiner Weiterreise, viel später als geplant, aus dem Staunen nicht mehr heraus. Zum ersten Mal, und nicht nur auf der Rundreise, sondern seit langem, seit »unvordenklich langem« staunte er. Wer hätte gedacht, daß man gerade in Deutschland, in einem abgelegenen Landstrich, wo man von Anfang bis Ende nicht recht wußte, wo man war – an Europa oder sonst einen Kontinent erinnerte einen jedenfalls gar nichts –, das gewisse, das langvermißte Staunen wiederfinden würde, und sei es vielleicht bloß episodisch?
    Aber war das denn überhaupt Deutschland? Und wenn: War es der Westen? War es der Osten? Nein, das ging ihm auf mit seinen Rundwanderungen um die Harzstadt, in jedesmal weiteren Kreisen: Weder-noch. Es war fortwährend die Grenzzone, welche die Mutter nach dem Krieg durchflüchtet hatte; war vielleicht schon vor dem Krieg, schon seit jeher, vielleicht durch das mächtige Inselgebirge inmitten der deutschen Länder, solch eine Zone gewesen. Wenn es noch galt, was Hugo von Hofmannsthal vor einem Jahrhundert beschrieben oder als nicht zu beschreiben erlebt hatte: daß in Deutschland selbst die Dinge, eine Waschschüssel, ein Apfel, ein Blumenstrauß, keine Wirklichkeit, keine Dinglichkeit hätten, so gehörte die Gegend um die Vaterstadt nicht zu einem solchen Deutschland. Ob das von der Aura rührte, die auf einen ausstrahlte von den vorgestellten Fluchtschneisen und -fährten der Mutter, oder dem nie gekannten Erzeuger, überhaupt den nicht einmal legendären Vorfahren vaterseits? Er, man, hatte keine Erklärung; wollte auch keine.
    Staunen und lesen. Erstmals auf seinem Unterwegssein fand er zum Lesen, wurde dazu fähig und dessen bedürftig. Und indem er las, erweiterte sich das Zonengebiet doch noch zu »Deutschland«, freilich nur, indem und während er das Buch las, das einzige, das er mit auf die Rundreise genommen hatte. Zwar hatte er es auch schon vorher da und dort aufgeschlagen, war aber unfähig gewesen, die Sätze auf sich einwirken zu lassen, übersprang sie wie auch einzelne Wörter, als wüßte er sie schon im voraus, wie bei einer Zeitung, und das konnte man nicht lesen nennen, es war eine Mißachtung des Buchs, zumindest dieses einen. Um welches es sich handelte, wollte er uns nicht sagen. Nur eines: Es war keine der »Harzreisen«, weder die winterliche noch die aus einer anderen Jahreszeit. Staunen und Lesen und sich so in Deutschland fühlen: doppeltes Staunen. Ein friedlicheres Land als dieses sollte er nicht durchwandert haben, weder vorher noch nachher. Dabei traf er in der Gegend niemanden sonst, der las. Eine Buchhandlung gab es in der Luft-und-Wasserkur-Stadt entweder nicht, oder wenn – das war ihm eher zuzutrauen –, so machte er einen großen Bogen um sie, wie, seit langem, um alle Buchhandlungen. Und doch, einmal war er in einer der vielen Seitenstraßen, es gab dort fast nur solche, auf Bücher gestoßen, einen ganzen Haufen, der zum auf den Gehsteig gekippten Sperrmüll gehörte, und darunter, nein, ganz zuoberst, auch eins, dessen Verfasser ratet mal wer war.
    Lesen und ein Deutschland, in dem die totgesagten Dinge einen staunen machten, als seien sie nach einem Jahrhundert in einer farben- und formlosen Vorhölle wiederauferstanden. Dinge, damit waren dir nicht die allgegenwärtigen Krücken, Rollstühle, Ambulanzwagen, Bestattungsgestelle gemeint, sondern das, was in den trotzdem noch offenen und wohl auch durch das Lesen sich öffnenden Zwischenräumen so blühte, ohne eigens zu blühen, sich bauchte, wölbte, behauptete, überdauerte, inbegriffen die Zwischenräume selber. Ein hölzerner Hochsitz in den Wäldern konnte das sein, auf den kein Jäger mehr

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