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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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kletterte, die eine Reiseschreibmaschine im Sperrmüll, frisch rot, der eine Serviettenring, der nicht zur Kollektion gehörte, die eine Bank, oder war das ein Kinostuhl?, tief im Unterholz, schwarzglänzend nach dem Regen. Und jeweils einzeln, seltsam, seltsam, begegneten ihm im Umkreis die Dinge, immer in der Einzahl, so wie ihm das dann in der Folge auch auffiel an den Tieren und den Zonengebietsmenschen. Auf einem der zahlreichen die kleine Stadt umgebenden Waldteiche schwamm ein einzelnes, ein einziges Blatt. In der einzigen noch nicht ausgedienten Jukebox der Zone, in einem Gasthaus, eher einer Baracke wie von ehemaligen Grenzern, eines der um die Stadt verstreuten Dörfer, stand in dem sonst leeren Wählkreis eine einzige Platte – »Only You?«, nein, du Wicht: »Love Me Tender.« Ein einzelnes Pferd grinste in einem Apfelgarten. Ein einzelnes Fenster war nach Mitternacht noch beleuchtet. Nur in einer einzigen Telefonzelle sah er einen, der telefonierte, so wie, wenn ein Schulkind auf dem Heimweg war, dieses immer einzeln ging. Einzeln jeweils der Arbeiter in einem der Karststeinbrüche, der Holzfäller im Harzfichtenwald, der Polizist in seinem Patrouillenauto, das Postfräulein in der Post, die Kassiererin im doch großen Supermarkt, die alte Wirtin und der junge Wirt in dem und dem Dorfkrug wie auch ihr Gast, der Mann auf dem Mähdrescher, die Ingenieurin beim Reparieren einer Wasserleitung schon oben halb im Gebirge, einzeln, ob ihr es glaubt oder nicht, in der Kirche sogar der Messehörer, nicht nur der Priester und der Ministrant, einzeln der Geometer an der Ausfallstraße, der Ballspieler auf dem Sportplatz, der Schachspieler im Altenclub.
    Versteht sich, daß immer wieder welche in Scharen, gar massenhaft auftraten – wenn auch jedesmal erst nach längerer Ereignislosigkeit. Doch für die hatte er nicht recht ein Auge, gemäß dem, was ihm schon in seiner Schreiberzeit nachgesagt worden war: er sei eher ein Zeichner von Einzelnem, Dingen wie Menschen, Und Paare? Sah er dort in der Grenzzone, auch wenn er sich noch so die Augen danach ausschaute, kein einziges. Nicht einmal die Elstern bildeten ein Paar, und nicht die Enten mit ihren Enterichen, und nicht die Waldtauben mit ihren Täuberichen. Selbst die Igel, deren Paarungszeit das angeblich sein sollte, begegneten ihm sämtlich als Einzelgänger, und bei dem einen, von dem er, mitten im Grenzwald, einmal schon von weitem das wie unverkennbare Freierschnaufen wahrnahm samt der auseinanderstiebenden Laub- und Nadelspreu, handelte es sich um einen in den Maschen eines verrosteten Drahtzauns eingeklemmten, der sich mit ziemlich letzter Kraft daraus befreien wollte – einmal wenigstens auf der Reise konnte unser Gastgeber so zum Retter werden? So war es. Und es gab doch Paare: die kleinen rotbraunen, dunkelpunktierten Schmetterlinge, die einander in der Luft ständig umkurvten, so eng, daß die Flügel sich zeitweise gegenseitig berührten, und deren Radschlagen sie als drei, nicht nur als zwei, erscheinen ließ, wie es auch bezeichnend ist für die Falterpaare bei uns auf dem Balkan.
    In Sicherheit fühlte er sich in der Gegend, wo seine Mutter dem Vater einst über den Weg gelaufen war, oder umgekehrt. Weder sah er sich bedroht von seinen Entrückungszuständen, aus denen es schwer war, in das allgemeine, alltägliche Zeitmaß zurückzufinden, noch von gleichwelchem deutschen Volk. Was jedenfalls die Leute, die einzelnen, in dem Zonengebiet betraf, gab es da kein deutsches Volk, hatte es nie eines gegeben, und, so dann sein Gedanke, auch gleichwoanders nicht, höchstens als vermessene Fiktion. (Freilich: Konnte ein Vermessen sich böser auswirken als das in einer Fiktion?)
    Er hätte noch lange im Harz bleiben können, im stillen der fernen Frau Augenblick um Augenblick weitererzählend. Sicherheit hieß auch: er und die Zeit waren für einmal im Gleichmaß. Aber gerade das Gefühl, in Sicherheit zu sein, zog ihn dann weg, wenn nicht gleich zurück in unseren Balkan, so doch in seine Richtung. Die zitternde Sekunde, sie blieb in Deutschland aus. Das Land oder was auch immer verhinderte sie. Oder bewahrte davor? Seinen Schutzengel brauchte er in diesem Deutschland nicht.
    Die letzten Tage dort an den südlichen Ausläufern des Harzgebirges benutzte er, sich auf einen Kampf vorzubereiten. Ein solcher stand ihm bevor, dessen war er sich gewiß, ungewiß nur, was für einer. Dieser Kampf würde jedenfalls den ganzen Mann fordern. Und so trainierte er,

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