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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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er in der Abwesenheit erlebte und wahrnähme, zugleich für sie geschähe. Und was war die Idee? Auf was brannte er? (Tatsächlich: er brannte.) – Kreuz und quer zu streunen und, vor allem, herumzuschnüffeln. Ja, das Herumschnüffeln würde dort sein Hauptgeschäft sein, und er war sich dabei im voraus gewiß, daß in der Vaterlandschaft etwas auszuschnüffeln sein würde, ob über den Toten, oder sonstwen, oder sonstwas, freilich kein Verbrechen? Man konnte nie wissen.
    Er brachte den Namen seines Vaters nicht über die Lippen, ebenso wie er uns anderen verschwieg, wie die kleine Stadt hieß. Daß sie in »Deutschland« an den südlichen Ausläufern des »Harzes«, das auszusprechen hatte er gerade noch den Schwung, der ihm für den Ortsnamen fehlte, und auch, anders als bei dem dalmatinischen »Cordura« früher in der Morawischen Nacht, für ein Ortsnamenerfinden: bei deutschen Orten – Städten wie Dörfern – sei er dazu außerstande. Aber »Harz« und »Deutschland«, und das sogar wiederholt, ließ er mit einem epischen Vergnügen hören.
    Die einzigen ein wenig präziseren Angaben zur Topographie: die Landschaft im Bogen um die Kleinstadt war ein Karstgebiet, wie man es sonst hauptsächlich auf unserem Balkan antrifft, mit unterirdischen Kalk- und Tropfsteinhöhlen, weißsteinigen, messerscharfen Geröllfeldern, Dolinenschüsseln, bezeichnet durch ein tieferes Grün im Grasland, und unvermittelt unter die Erde verschwindenden Wasserläufen. Und die ehemalige Grenze zwischen West- und Ostdeutschland war nahe, die Stadt lag im früheren Zonengrenzgebiet. Eine Mittelgebirgsmeile weiter ostwärts war seine Mutter, ohne daß auf sie geschossen wurde, über die unsichtbar durch einen hügeligen Fichtenwald verlaufende Grenze geflüchtet, in einem frühsommerlichen Morgengrauen, die Heidelbeersträucher taunaß, die Beeren noch klein und grün, da und dort schon mit einem Anhauch von Blau, die zwei Pappkoffer, welche die sehr junge Frau schleppte, unten aufgeweicht, so durchnässend war an jenem Nachtende der Tau.
    Er war damals noch nicht auf der Welt, wurde gezeugt erst später in der kleinen Harzstadt, oder werweißwo. Aber als ihm die Mutter dann davon erzählte, war ihm, er sei dabeigewesen, mit ihr auf der Flucht. Er sah die taudurchweichten Pappkoffer mit eigenen Augen, roch die – nicht harzige, einfach berg- und vormorgenkalte Luft, spürte deren Zug an Wangen und Schläfen, den seinen wie denen der Flüchtlingin, hörte ein gar nicht fernes Fahrzeuggeräusch, Militär?, den Stickschrei – was war das? – und noch einen, ah, ein Fasan; das Sausen der Fichten, hoch oben in den Kronen, was vortäuschte, nicht bloß gerettet und in Sicherheit zu sein, sondern schon ganz woanders, hinter noch und noch anderen Grenzen, daheim, in Dorfnähe; und das Pochen, nein, das »Pumpern« des Herzens, nicht nur im Ohr, sondern im ganzen Kopfraum. War das von seiten der Mutter ein Erzählen? Nein, sie trat nicht eigens als Erzählerin auf, oder setzte sich als eine solche zurecht; ließ sich eher bloß so hören, die Worte kamen ohne Vorsatz aus ihr, waren die längste Zeit schon still bereit, und einmal, jetzt, war es eben der Moment, wohl auch, weil ihr Sohn einer war, der sich nicht und nicht satthören konnte, über Geschehnisse und Begebenheiten hinaus auch nicht an gleichweichem originalen Fichtenwipfelsausen, Regenrauschen, Flockenknistern, Grillenzirpen, Schwalbenschrillen, Fernzugbrausen. Und nicht nur die Grenzüberschreitung der jungen Frau blieb ihm so gegenwärtig, sondern alles, was sie ihm aus ihrem Leben und auch dem der Vorfahren ihrerseits zu Gehör brachte, und zwar mit noch und noch Einzelheiten, die überhaupt nicht von ihr stammten.
    Er kam an in der Stadt seines Vaters an einem frühen oder späten Nachmittag – in diesem Fall tat die Tageszeit einmal bestimmt nichts zur Sache. Oder doch? Hatte er es nicht vorgezogen, an einem fremden Ort jeweils erst gegen Abend anzukommen, wenn, wie es in der Filmsprache hieß, schon das Licht brach oder, noch besser, in der ersten Dämmerung da und dort schon eine Lampe angeschaltet war, und in seiner Bücherzeit das auch so beschrieben? Er stieg demnach in der ersten Dämmerung aus dem Lokalzug und ging, nachdem er die wieder einmal weit außerhalb des Orts gelegene Station, bloße Haltestelle, samt vermauerter Toilette und Graffiti am Unterstand inspiziert hatte, mit seinem Rucksackkoffer aus Stoff, nicht aus Pappe, nordwärts auf die in den

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