Die morawische Nacht
welche nach oben offene gab – kam kein Tropfen (er dachte und sagte »Tropfen«) Licht mehr. »Immerhin« hatte er sein Mobiltelefon dabei, und dessen Wähltasten waren beleuchtet und ließen ihn so wenigstens die eigene Hand sehen, oder erahnen. Versteht sich, daß er in der Tiefe keinen Empfang hatte. Und das, ob es sich versteht oder nicht, war ihm dann recht. Er wollte sich nicht mehr, wie vorher noch, in Sicherheit bringen. Und schon gar nicht wollte er einer sein, der gerettet worden wäre. Anfangs im Tunnel, eingetaucht in die erste dunkle Kurve, war er noch auf der Hut gewesen vor Menschen, die da vielleicht hausten, Obdachlosen, Illegalen, Rauschgiftlern, liegend zwischen den Schienen, lehnend an den Wänden, kauernd in den Nischen, so geräuschlos wie geballt, samt ebensolchen Hunden oder weißderteufel welchen Viechern, die ihn aus dem Schwarz-in-Schwarz ansprängen. Später dann, mit dem Hinschwinden des bißchen Lichts, in dem vermaledeiten Tunnel, der nicht enden wollte, hatte er sich dort Menschen, gleichwelche, erhofft. Und das Dritte war dann, daß er sich kurzerhand – ohne Gedanken, wie weit es noch wäre, ob wenigstens die Mitte bald erreicht wäre, und, und – weitertastete, weitertrippelte und weitertippelte. Bevor er uns für die Morawische Nacht auf das Boot rief, hatte er überlegt, ob er uns anderen mit dem Moderlicht, zum Beispiel von den verfaulten Schwellen, kommen könnte, und dieses hätte ihm von Zeit zu Zeit weitergeholfen. Aber da war kein Moderlicht, mit dem das Geschehen etwas weniger eintönig erschienen wäre, und so ließ er es bleiben.
Was dafür war: das Geräusch der eigenen Schritte, und der Rhythmus, von den unsichtbaren Bahnschwellen bestimmt selbst, wo diese verschoben waren oder fehlten. Er kam ins Zählen, und indem er nichts tat als zählen, bewegte er sich voran, jenseits der früheren Befürchtung und Hoffnung. Er zählte und zählte, und zählte. Und unvermittelt fing er davon an, nein, ging dazu über, im Stillen von dem, was er da gerade, in der Gegenwart, erlebte, zu erzählen, in der Vergangenheitsform. Nein, nicht er war es, der ins Erzählen überging, vielmehr es. Es erzählte in ihm. Es hob an, in ihm zu erzählen. Und keinem Unbestimmten, wie in seiner Schreiberzeit, galt das Erzählen, und schon gar nicht uns anderen – die Lust, uns um sich zu versammeln, kam ihm erst viel später auf seiner Rundreise –, sondern ihr, der Frau, von der er gerade aufgebrochen war. Ihr allein wurde still erzählt, über die Tunnelfinsternis hinaus noch weiter in der Folgezeit, was sich von Fall zu Fall so ergab, nein, nicht bloß von Fall zu Fall – in einem fort, ein jeder seiner Schritte. Und sonnenklar, und ohne daß ein Märchen und die Kraft des Märchens bemüht zu werden brauchten: auf diese Weise fand er, zeit des Tapsens im Lichtlosen kein Reisender mehr, und nicht einmal mehr ein Ex-Autor, und insbesondere kein Bootsherr, nur noch eine Kreatur, am Ende hinaus ins Freie. Am Ausgang des Achtmeilentunnels war es längst Nacht. Aber, die Böschung hinaufgeklettert, fand er, gleich da am Saum, noch eine Bäckerei offen, hell ausgeleuchtet im Stadtranddunkel, und ohne daß eine Zwischenfrage nötig gewesen wäre, wiederholte er für uns in jener Nacht auf der Morawa, was er ihr, der Fremden, zugleich mit seinem Kundewerden – »der letzte Kunde des Tages« – in der Bäckerei schon erzählt hatte: er kaufte ein kleines Brot, in das Oliven gebacken waren, schwarze, dazu eine Mandelschnecke mit Rosinen, dazu einen Krapfen, gefüllt mit Zwetschkenmarmelade, und verzehrte das alles draußen an der Stadtausfallstraße auf einen Sitz.
5
Er hatte seinen Vater nicht gekannt, und es hatte ihn bei dessen Lebzeiten nicht gezogen, ihn kennenzulernen. Es war jetzt auch nicht das Grab, das ihn auf den Weg brachte. Eher hatte er im Sinn, sich mit der Gegend vertraut zu machen, in welcher sein Erzeuger geboren und gestorben war, und möglichst noch mit den Gegenden neben und hinter dieser Gegend. Schon vorher war das sein Plan gewesen: Wenn eine solche Rundreise, so sollte das eins seiner Ziele sein. Nach der Zeit mit der Fremden aber war aus dem eher vagen Plan ein Antrieb geworden – eine Idee, die in ihm pulste. Hatte er zuvor vielleicht noch eine Erklärung gebraucht, so erübrigte sich diese nach ihrer beider Zusammensein. In die Gegend des Vaters und der väterlichen Vorfahren würde er gehen für sich wie auch für sie, die Frau, so wie überhaupt alles, was
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