Die morawische Nacht
darauf zu stützen. Und sie redete gleich drauflos, im Rhythmus der Lufthiebe, ungefähr folgend, und wild durcheinander: »Ja, verdammter Vaterloser du! Hältst dich für unverwundbar, weil du nie einen Vater gehabt hast. Hältst alle Augen auf dich gerichtet, im Guten wie im Bösen. Erlaubst dir als Vaterloser, was niemand sonst sich erlauben darf. Glaubst, daß für dich keine Regeln gelten, und wenn, dann ganz besondere. Deinen Vater los: der Freieste der Freien? Nicht doch, mein Lieber: keines-Vaters-Kind wird nie ein Erwachsener, wird nie und nimmer, auch nicht durch tausend Gewaltmärsche, Gipfelstürme, Wüstendurchquerungen, ein ganzer Mann, höchstens ein Verstiegener. Nicht frei bist du, der du glaubst, keinen Vater je nötig gehabt zu haben, sondern vogelfrei. Ein Verbannter bist du, verbannt nicht allein aus der Vaterstadt, sondern von allen Stätten, ein Ortloser bist du. Den Prinz gabst, Vaterloser, du, mit freiem Raum um dich, und warst, wenn Prinz, doch nur Prinz von Nirgendwo, Prinz-ohne-Raum. Als Ritter wolltest, Vaterloser, dich, als Unbedingter im Kampf fürs Ideal, und verleugnetest, wenn es darauf ankam, das Ideal, als nicht Verantwortlicher, so wie du deinen Vater, als nicht für ihn verantwortlich, von Anfang an verleugnet hast. Als Liebender erträumtest du dich … Als einzigen sahst du dich … Als derjenige welcher tratst du auf, selbst im Verborgenen, selbst in der Menschenleere … Weg mit dir, du Vaterloser Gesell. Hast in deiner Vaterstadt nichts zu suchen, auch nicht vor der leeren Grabstelle. Wirst nie zur Menschheit gehören. Wenn bei Homer sieben, oder warens neun? Städte sich darum gestritten haben, die Städte seiner Geburt zu sein, so werden in deinem Fall neun mal sieben abstreiten, daß du aus ihnen stammst. Wirst sterben als Menschenfeind. Wirst umkommen von der Hand einer Frau, einer ungeliebten, einer Männerfeindin. Wirst zu spät nach deinem Vater schreien, und warum er dich verlassen hat, wenn doch du es warst, der … Ach, wenn es so einfach wäre. Vielleicht kannst du ja gar nichts dafür? Vielleicht hast du deinen Vater ja einmal gesucht, da und dort, bei dem und dem, und hast ihn bloß nicht gefunden, bis heute nicht? Und suchst ihn noch immer? Oder? Oder nicht? Weg mit dir, mein Lieber. Du hast hier nichts zu suchen. Srečan put. Gute Weiterreise.«
6
Hatte der ehemalige Autor sich auf der bisherigen Reise nicht nur prinzlich, sondern, so kam es ihm vor, sogar königlich Zeit gelassen, so war es ihm unterwegs in sein Geburtsland auf einmal eilig. Weniger nach Österreich zog es ihn als von dort weiter, nachhause, ja, nachhause auf den Balkan, auf das Boot an der Morawa. Er fühlte? dachte? nein, er wußte sich mit dem Fluß und der Enklave von Porodin verbunden; wußte sich dem Ort verpflichtet, auch wenn kaum jemand dort sich um ihn scherte, geschweige denn ihn nötig hatte. Mit Österreich dagegen verband ihn in Gedanken nichts mehr, und das schon seit so langem, daß ihm das von Zeit zu Zeit beinah unheimlich wurde. Sein Bruder, zu dem er, ohne einen besonderen Kontakt, eine gewisse Nähe spürte, und ebenso Filip Kobal und der aus der Niemandsbucht unlängst heimgeflüchtete Gregor Keuschnig: die waren für ihn, ähnlich wie noch die paar anderen Bekannten im Land, nicht Österreich. Sein Heimatland, an dem er doch einmal gehangen hatte, das ihm dann, in einer Zwischenzeit, zum Feind geworden war und an dem er dann wieder gehangen hatte, bereit, würde es, wie das weiterhin, wenn auch auf andere Weise als früher, von außen in Bausch und Bogen angegriffen, es zu verteidigen wie nur je ein Patriot: es war ihm, im Bösen wie im Guten, entfallen, und so ganz recht war ihm das aber nicht. Nicht einmal mehr im Traum kam seine Kindheitswelt mehr vor.
Wenn er andererseits zurückdachte an die zum Glück nur kurze Periode, da er, als junger Schreiber, die Rolle eines Vertreters seines Landes zugewiesen bekommen hatte und dann und wann auch entsprechend aufgetreten war, so packte ihn selbst heute noch die Scham, und es war immerhin ein Gefühl von Freiheit, danach entschieden der Sprecher von niemand und nichts geworden zu sein. Nur keine öffentliche Figur sein, nicht einmal, wie damals er, eher im Spiel, und schon gar kein »Nationalautor«. Dem allen war er, nicht allein durch seine Übersiedlung auf den verschatteten Balkan und nicht allein durch den Verzicht auf gleichwelche Veröffentlichung, entkommen. Schuldig gemacht, so noch immer seine
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