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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Vorstellung, hatte er sich doch, indem er das Nationaldichterspiel, und wenn auch halbherzig, mitspielte, bleibend schuldig. Und warum hatte er mitgespielt? Vielleicht, weil er seinerzeit, für eine kleine Weile, in der Tat an etwas wie eine andere Nation glaubte, überhaupt an grundandere Nationen, und meinte, die mitverkörpern zu können. Idiot. Dorftrottel. Hausstock. (»Noch einmal erklärt für euch Hausstöcke«, unterbrach der Bootsherr wieder einmal sein nächtliches Erzählen: »›Hausstock‹, österreichisch: der eine Debile oder Geistig-nicht-Entwickelbare in einem bäuerlichen Anwesen, einer, der, in jedem Sinn, über Haus und Hof nie hinauskommt, eben ein Haus-Stock.«)
    In der letzten Zeit aber waren die Träume von seinem Land zurückgekommen. Jede Nacht ein Geburtsorttraum, und der dort nachtlang andauernd, in neu von dort geträumter epischer Weite (wenn auch weniger Fülle). Er erklärte das sich, und später uns Zuhörern im Bootssalon, damit, daß er ihr, der fremden Frau, während ihrer beider kurzem Beisammensein in einem fort vom Kindheitsdorf und seinen Vorfahren erzählt hatte, ungefragt, so als gehöre das, samt dem Ungefragt, zur Begeisterung über sie und ihn, über sie zwei, über sie beide. Auch in ihrer Abwesenheit erzählte er ihr im stillen weiter von dem Steilhang hinter dem Haus, wo in der Osternacht das talweit sichtbare Feuerkreuz, geformt aus Ölfackeln – oder brannte das Öl in Dosen? –, leuchtete und wo die Auferstehung Jesu von den Toten dann mit Böllerschüssen gefeiert wurde, wobei es einem der Schießmeister einmal den Arm abriß, erzählte weiter von der Bachkurve, wo er an einem Sommerabend seine Mutter, als Badende unter mehreren anderen, erstmals – und letztmals – nackt sah, sehen mußte – nie wieder, Mutter! erzählte von der Feldscheune, aus der eines Tages, als er da vorbeiging, die Stimmen eines Mannes und einer Frau drangen, nein, klangen – so ruhig, so melodisch waren diese Stimmen in ihrem Wechselgesang, mit ebenso ruhigen und melodischen Pausen dazwischen, Stimmen von zwei Menschen, unsichtbar hinter den wettergrauen Holzplanken, ein Zwiegespräch, unverständlich zwar, wie es ihm jedoch so zart und inniglich, durch keinerlei Zwischenfall mehr aus dieser besonderen Ruhe zu bringen, nirgends sonst je zu Ohren gekommen war; erzählte und erzählte von sich zuhause, und mit Vorliebe von nichts und wieder nichts.
    Aber wieso suchte er nach Erklärungen für seine zurückgekehrten Dorfträume, gerade er, der sonst vor jeder Erklärung zurückscheute und vor dem, der ihm mit Erklärungen anfing, sofort einen leeren, wenn nicht bösen Blick bekam? Seit wann brauchte er Erklärungen? Seit er nicht mehr schrieb? Nicht mehr schrieb einen Satz nach dem andern, ohne »weil«, »darum« und »dadurch daß«? Ah, war das da nicht gerade, von unserer Seite her, der Versuch einer Erklärung? Seit wann brauchen denn auch wir, seine Zuhörer, seine (mehr oder weniger) Freunde, Erklärungen? Seit wir nicht mehr seine Leser sind? Ah, ist das nicht gerade … Schluß mit den Erklärungen, jetzt und in Ewigkeit, amen.
    Überdies waren seine Neuerdingsträume Schreckensträume. Der Schrecken, oder eher das Grauen, kam nicht daher, daß es, sozusagen naturgemäß, kein Geburtsdorf mehr gab, sondern von den Leuten dort, den Vorfahren, die, in der Wirklichkeit längst tot, in den Träumen anfangs noch lebten, alsbald aber in ihrem Todeskampf, einen so wilden wie eintönigen, verfielen und am Ende, weiterhin wild, sterbend und nicht sterben wollend, den Schauplatz räumten, so daß nur noch weithin die einstige Dorfgegend zu spüren war in einer so dämmrigen wie schneidenden Leere, nichts als die Erdformen dort oder, wie sagte man doch? die Topographie, die Hügelkuppen, die Schluchten, die Kurven und Dreiecke der früheren Wege, ohne die Wege, der Kreis des Baumstamms in der Dorfmitte, ohne den Baum, und darüber die Kuppel des Himmels, ohne den Himmel.
    Unser Zwischenfrager wollte nun wissen, ob das die Erklärung sei, warum der Rundreisende es so eilig gehabt habe, durch sein Stammland zu kommen – natürlich fragte er so bloß zum Spaß. Denn war es nicht klar, daß diese Träume allein von Dorf und Umgebung handelten, und in keinem Fall – auch vorher war das nie ein Traumthema gewesen – von ganz Österreich? Und im übrigen hatte er es ja, wie es im Verlauf der Begebenheiten dann klar werden sollte, auf seinem Weg quer durch das Land sehr bald gar nicht mehr so

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