Die morawische Nacht
zugeschütteten Bäche als dunklere Streifen, Striemen, Kehren und Mäander in das helle Scholleneinerlei eingezeichnet, auf einem dieser Wege und neben einem dieser Bäche wieder an der Hand eines der Vorfahren dahinging, barfuß in einer Sommervormorgendämmerung, der Weg knöcheltief bedeckt mit Staub, schimmernd im ersten schwachen Licht, kühl von der Nacht, mit vereinzelten Regentropfen, großen, schillinggroßen!, welche lautlos ebensolche schillinggroße Krater schlugen in den Sandstaub, einen Krater nach dem andern, und den Feldweg, die zwei da Gehenden und die sommerliche Vordämmerlandschaft verbanden, für eine andere Ewigkeit, mit dem Mond darüber, ob der sich zu der Zeit nun sehen ließ oder nicht. Nein, ein Abkürzen der Wege »heimzu« auf den Balkan kam nicht in Frage. Das Unterwegssein, die Expedition mußte in dem Rhythmus fortgeführt werden, von dem sie sich bis zum Augenblick hatte leiten lassen. Kein Begradigen, kein Zuschütten, keine Vogelfluglinien, kein Beschleunigen, kein Zeitraffer.
Die Rund-und-Zickzackreise hatte so weiterzugehen wie sie begonnen hatte, als eine lange Geschichte.
Lang war die auch jetzt schon, und zugleich war es bei seiner Ankunft in Österreich ein Vorvorfrühlingstag wie damals bei seinem Aufbruch aus der Morawa-Enklave: letzte Schneeflecken da wie dort, graues Gras mit einzelnen, gar einzelnen frischen Halmspitzen. Es war noch mitten am Tag, und die Sonne schien, die Sonne des Zeithabens. Sich sonnen in ihr: und so beschloß er, vom Flughafen zu Fuß aufzubrechen, irgendwohin in das Land, sich leiten lassen, ohne vorgefaßtes Ziel, von den Straßen, den Wegen, dem Querfeldein, den Horizonten, und eben der Sonne des Zeithabens, seinetwegen auch bis nach Wien, bloß nicht in die innere Stadt, in die inneren Bezirke.
Nicht, daß er ausdrücklich etwas dagegen hatte. Es war ein unwillkürliches Widerstreben. Oft und oft war er früher einmal in seiner Hauptstadt gewesen, und ein jedesmal hatte die sich dargestellt als ein Labyrinth, wie keine andere der Weltstädte. Und das Zentrum war das Zentrum seines Irregehens gewesen. Hatte er zwischendurch gemeint, sich nun endlich auszukennen, so hatte er schon bei der nächsten Seitengasse oder nach einem Durchgang von einem Palast zum andern wieder nicht weitergewußt. Es war die Zeit, da die Passanten ihn noch erkannten, als denjenigen welchen, und wenn er dann einen nach dem Weg fragte, wunderte sich der, nach einem fast immer herzlichen Gruß, daß gerade er, in den Augen des andern doch eine öffentliche Person, ein Vertreter des Landes – als ein solcher galt damals ein Schriftsteller noch bei nicht wenigen –, gerade da, in der Landesmitte, verlorengehen konnte. Und es war die Regel, daß er in den inneren Wiener Bezirken unversehens nicht mehr wußte, wo er sich befand. Noch beim hundertsten Mal dort kreuzend, ging er, selbst mit einem Plan in der Hand, gleichsam zielsicher in die falsche Richtung und fand zuletzt aus dem Labyrinth nicht mehr heraus, jedenfalls nicht ohne fremde Hilfe. Und im Regierungsviertel verwechselte er jedesmal die einzelnen Amtssitze und überhaupt die Gebäude, und meldete sich bei einem Theaterportier, den er für den der Hofburg hielt, wollte die Hofburg, oder wie das hieß, betreten durch eine Art Lieferanteneingang und flüchtete zuletzt aus der Kaisergruft, die er gar nicht hatte betreten wollen, zu einem Allerwelts-Würstelstand, vor dem er befreit aufatmete.
Von dem einst großen Reich war nur das Labyrinth in seinem Zentrum geblieben? Nein, mit dem, wie sagte man?, neugeordneten Europa schien etwas davon zurückgekehrt, zumindest bei manchen Landsleuten, vor allem den jüngeren. Das war kein Reichsgedanke mehr, wenn es den je gegeben hatte (er als Dorfmensch hatte kaum etwas davon mitgekriegt), vielmehr eben Weltoffenheit, eine, die man, selber Jugendlicher und fort aus dem verehrten Dorf, an den meisten Erwachsenen so vermißt hatte. Obwohl sich an den Grenzen nichts geändert hatte, erschien das Land nicht mehr so klein. Seltsam, oder nicht seltsam, dabei, daß das, wenn auch in bloßen Anzeichen und Spurenelementen zurückgekehrte Reich bei seinen – eher luftigen – Verkörperern, statt vielleicht großspurig, geradezu bescheiden auftrat. Es zeigte nichts von einem Imperium. Und es würde auch nie mehr zu einem Imperium ausarten. Oder doch? In den Hintergedanken einiger Älterer? Wie auch immer: die Jüngeren aus dem Land, die in seinen Augen etwas von dem versunkenen Reich
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