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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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so?
    Am Morgen des letzten Tages in seiner Vaterstadt ging er endlich zum Friedhof. Der lag, jenseits von sieben Harz-Ausläuferrücken, am Waldrand, und die Fichten in ihm, sehr hoch, schienen nicht eigens für die Gräber gepflanzt, sondern von einer ehemaligen Waldzunge übriggeblieben. Es war eine Wiederholung des Zitronenfaltertags in dem südwestlichen Europa – dieser war nun angekommen im Innern des Kontinents. Das Grab des Vaters und dessen Vorfahren ließ sich nicht finden, und so fragte er danach in dem angrenzenden Blumenladen. Die einzelne Frau dort wußte sofort Bescheid: Das Grab, weil die Konzession abgelaufen war und niemand auch für eine weitere Pflege bezahlt hatte, gab es nicht mehr, wenn auch erst seit kurzem, die Stelle sei noch frei, und sie zeigte ihm auf einem Plan Reihe und (ehemalige) Nummer, sie selber war die Pflegerin gewesen. Ein gar nicht so kleines, vollkommen flaches, mit Gras durchwachsenes Schotterviereck im Leeren, flankiert beiderseits von Grabhügeln: da war es, war es gewesen. Übrig war nichts als das leere Viereck mit einer Steinumrandung. Inmitten des Vierecks ein Grashalm, an dem eine flaumige kleine, noch taunasse Vogelfeder haftete. Und der Sand und die Kiesel in dem Viereck gleich wie außerhalb, auf den Wegen, nur um eine Spur heller.
    Kein Name, kein Grabhügel, nichts zum Gedenken. Er hätte ohnehin nicht gewußt, wessen gedenken; hatte kein Bild von dem Vater – höchstens eines von dessen Vater, das einzige, was die Mutter ihm überliefert hatte – ungefragt – gefragt hatte er nach seinen deutschen Vorfahren von sich aus kein einziges Mal. Und dieses Bild? Handelte von einer Schlittenfahrt des unbekannten und namenlosen Vatervaters mit Frau und Kindern, irgendwo auf einem Südharzhügel, vielleicht ähnlich dem, wo jetzt sachte die Gräberreihen anstiegen, und der Großvater, noch jung, zog da den Schlitten mit Sohn und Tochter hügelan, blieb plötzlich stehen und sagte zu seiner Frau – die einzige Deutsche, die in jener Nacht auf der Morawa von dem Ex-Autor einen Namen bekam –: »Lina, ich sterbe«, und fiel fast im selben Moment auch wirklich in den Schnee. Und seltsam jetzt: Mit seiner toten Mutter kam er immer wieder wie von alleine ins Gespräch – mit seinem entschwundenen Vater, obwohl es ihn dazu drängte, war kein Reden möglich.
    Er ging vor der leeren Umrandung in die Hocke, und es war zum Staunen, oder auch nicht, wie der wohl schon fast seit einem Jahrhundert tote Großvater oder, wie er unwillkürlich dachte, »Ahn« ihm gegenwärtig war, und dagegen sein Erzeuger, der, dem er sein Leben mitverdankte, gar nicht, und nicht einmal hier vor der klaren geometrischen Leere, die sonst wie nichts anderes ihm die einen wie die anderen Abwesenden und Verschwundenen verkörpern konnte. Er hätte die Mutter doch fragen sollen. Noch und noch Fragen hatte er jetzt, und er hatte sie alle versäumt, und ein bitterliches Schuldgefühl ergriff ihn, und ein Zorn auf sich selber, mit dem Gedanken: »Ah, meine verdammte Vaterlosigkeit! Ohne Vater: außerhalb des Rechts.«
    Als habe er diesen Gedanken gelesen, entflatterte im selben Augenblick dem Himmelblau über dem Friedhof der erwartete gelbe Schmetterling, der Harzzitronenfalter, wie gerade aus der Luft dort geboren. Einer von uns auf dem nächtlichen Schiff, ein angeblicher Kenner Japans und der Nō -Spiele, wußte an dieser Stelle der Erzählung schon im voraus, daß der Schmetterling im Näherflattern, wie eben auf einer Nō -Bühne, eine Menschengestalt annehmen würde, und ließ, als der Schiffsherr das dann auch aussprach, ein schallendes »Genau! So und nicht anders!« hören. Bis dahin freilich wippte der Falter lange nur auf und ab als der leibhaftig gewordene, dabei zugleich schwerelose Mittelgrund. Solch ein Mittelgrund auch die in ähnlicher Weise auf und ab wippende weiße Bettwäsche an einer Leine in einem angrenzenden Garten und ebenso, als Geräusch, das Pfeifen eines Zuges weit unten in der an den Harz anschließenden Ebene.
    Der Falter, vor dem Fichtenbraun gelber denn je, fand aus seinem Seismographen-Tanz an Ort und Stelle auf einmal in eine gerade Vorwärtslinie, pfeilte so auf ihn zu und, »genau!«, verwandelte sich bei dem Schotterviereck in ein altes Weib. Uralt war dieses, und schwer, und endlich kein Kurgast, sondern eine richtige Harzeinheimische, zwar mit einem Stock, einem Haselstock – was sonst –, den sie aber schwang und durch die Luft sausen ließ, statt sich etwa

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