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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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eilig.
    Von Deutschland Richtung Südosten nahm er, eine Ausnahme auf seiner Reise, noch ein Flugzeug, und so schnell das unterwegs war, es flog ihm viel zu langsam. Bei jedem Blick aus dem Bordfenster war es, als sei die Maschine kaum von der Stelle gekommen. Es war ein klarer Tag, und der Flug ging über die Alpen, auf denen, bis tief hinunter in die Täler, Schnee lag, schneeweiß wie nur je einer. Jedes einzelne der Täler, dunkle schmale Einschnitte, hatte eher etwas von einem unwirtlichen Graben, einer unbewohnbaren Klamm, einem Kältesee. Und diese die Augen blendende Schneewüste dort unten, ohne auch nur ein einziges Lebenszeichen, nahm kein Ende. Der Pilot empfahl jetzt die Sicht auf das Steinerne Meer und eine Ewigkeit später auf das Tote Gebirge. Die beiden Anblicke unterschieden sich freilich kaum. Das Flugzeug täuschte nur vor, daß es weiterflog. In Wirklichkeit war es nicht »vom Fleck gekommen«, wie der Ausdruck lautete, der ihm in jener Morawanacht unterlief. Nie würde es landen, ewig müßte er, gebannt an die Luke, so in zehntausend Höhenmetern bleiben, über dem immergleichen weißglitzernden Hochgebirge, das, ob nun Steinernes Meer oder, »gehupft wie gesprungen«, Totes Gebirge, nicht einmal für eine Abwechslung durch ein Relief sorgte. Willkommen die eine Wolkendecke zwischendurch – von der Heckflosse eines anderen, sonst unsichtbaren Flugzeugs dann durchfurcht wie von der eines Hais.
    Und je mehr es ihn eilte, von da wegzukommen, nicht bloß weg von den Bergen, sondern in ein anderes Land, umso mehr wurde ihm die Zeit lang. Das Flugzeug pfeilte angeblich dahin mit einer Geschwindigkeit nahe der Schallgrenze, und zugleich wuchs in ihm eine Ungeduld, die er als Auswuchs einer Krankheit, eine besonders bösartigen, empfand, der »Zeitkrankheit«, wie er sie dann nannte. Ob die nur seine war, etwas Singuläres, und er ein Einzelfall? Jedenfalls äußerte sich das Zeitkranksein – hatte man es eilig –, was das Körperliche betraf, so, daß es einem noch zusätzlich die Luft abpreßte, die in einem dahindüsenden Flugzeug ohnedies kaum mehr zu atmen war, und daß es überhaupt die üblichen tagtäglichen Beschwerden wie Herzrasen, Halsenge, Müdigkeit oder auch bloß kalte oder brennende Füße noch verstärkte; und was die Seele anging? so suggerierte die Zeitkrankheit, ausgebrochen in der Übereilung, daß das Ziel nicht nur nicht näher, vielmehr, Herzschlag um Herzschlag, weiter wegrückte, und vor allem, daß es kein Ziel war, nicht wert dieses Namens, und daß die Menschen und die Landschaften, die einen dort etwa erwarteten, selbst die herzallerliebsten, fremd waren in dem Sinn, daß sie gar nichts bedeuteten – daß das Ziel selber in solchem Sinn die Fremde war.
    Als das Flugzeug, nach einer bösen Ewigkeit, doch landete, ließ er sich von dem Flugfeldbeton willig durchrütteln und hätte sich ein noch viel wuchtigeres Durchschütteltwerden gewünscht. Nichts gegen Eile – die konnte, zeitweise, vergnüglich sein und die Lebensgeister wecken, vor allem, wenn man ganz bei der Sache, der Eile, ganz Auge und Ohr für sie war. Doch die Beeilung, das Es-eilig-Haben war, wo es nur ging, zu vermeiden. Er hatte für die weitere Reise vorzusorgen, daß er keinmal in die von innen her sich auswachsende Übereiltheit und damit in die andere Zeitnot geriete. Das beschloß er, als er dann, lange und regungslos draußen vor dem Flughafen Schwechat stand, im Abseits, atemholend, bei einer sich wiederholenden Lautsprecherstimme, der einer Frau: »Achtung, Abschleppzone!« Beschlossen, die für sein Österreich geplanten Abkürzungen rückgängig zu machen, hatte er schon vorher beim Landeanflug, in einem weiten Bogen bis an den Neusiedler See, nah an die ungarische Grenze und wieder westwärts: Im Sichannähern an den Erdboden und insbesondere im Langsamerwerden der Maschine war man zurück in die Zeit geraten, war in sie eingerastet in das einem wohl eingeborene System, binnen einer einzigen Sekunde, welche die Seele wieder gesund machte. Und das hieß, die Erde unten ließ sich sehen, und in der Folge auch fühlen, ohne daß man noch eine Vogelschau dazu benötigt hätte: das Schilf des Schilfgürtels am Neusiedler See spürte man, es von oben erblickend, zugleich, wie einmal schon, neu als Berührung, als Kitzel an den Wangen, während man, mit dem Blick hinab auf die ausgedehnten brachen Felder vor der Landebahn, darin die ehemaligen, längst zugepflügten oder begradigten Feldwege und

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