Die morawische Nacht
Gedankenauslöscher, der Guimbarde (erste Bedeutung: Begleitung zum Hopstanz), klangen sämtliche dieser Hymnen anfangs eher zum Lachen und dann aber nicht mehr, selbst als dir zuletzt, weißt du, alle auf dem Podium die Hymnen und Populärweisen durcheinanderdröhnen ließen, der Indio ein »Guantanamera«, der Ire ein »Two for the Road«, der Italiener ein »Azzurro«. Häßlich sahen sie durch die Reihe aus, mit den verzerrten Gesichtern und der Maultrommel zwischen den Zähnen. Aber sie zu hören …
Der einzige im Saal des »Gasthofs der Namenlosen«, der diese Spielphase der Allerweltsmaultrommler für bare Münze nahm, war der Neuankömmling, der Wanderer. Als er uns anderen in jener Nacht auf der Morawa das Weitere erzählte, konnte er nicht sagen, ob er den Verlauf der Begebenheiten tatsächlich erlebt oder eher nur geträumt hatte. Wenn ein Traum, so war aber das Gefühl, von dem er durchdrungen gewesen war, so stark und nachhaltig, wie im Wachzustand äußerst selten. Abschweifend bemerkte er, die große und fortwirkende Freude, Dankbarkeit, Zuneigung, Lebenslust mehr und mehr fast nur noch in den Träumen zu erfühlen.
Und was fühlte er bei dem Melodienreigen der Maultrommler? Wut. Wut so vollkommen, wie er sie eben einzig im Traum erfuhr. Und was tat er in dieser Wut? Oder was träumte er, zu tun? Er sprang auf von seinem Platz am Kaminfeuer, oder war das eine Esse, Überbleibsel einer früheren Schmiede, und gesellte sich mit großen Schritten zu den Spielern auf der Saalbühne. Schon im Gehen nestelte er seinerseits aus der Wanderjacke eine Maultrommel, seinen alten Wegbegleiter, der dann, zwischen die Zähne gepreßt, nach Rost schmeckte. Einzelne Töne schoß er, erst von unten herauf und dann oben auf dem Podest, in Augenhöhe, auf die Frevler da los, isolierte Töne voll der Wut eben, in Abständen, um sie aus Melodie und Rhythmus zu bringen. Die Judenharfe zu mißbrauchen für erlogene Harmonien: das durfte nicht sein. Keinen Weltkreis, urbi et orbi, hatten die Mundharfenspieler zu vertreten, sondern, wenn überhaupt etwas, die Hinterwelt, den Hinterwald, das entschiedene, stolze, traurige Hinterwäldlertum. War nicht selbst Abraham Lincoln, in seinen jungen Jahren zumindest, dafür eingestanden mit seiner Art Maultrommelspiel, ein Ton nach dem andern aus dem Nachdenken kommend, allem demagogisch Melodiösen ausweichend, jedem Ton, jedem Gedanken erst einmal nachhorchend, lange, lange, und dann erst einen nächsten erprobend im weiten Land und ihm, dahinein nachschauend, dem Gedankenton, dem Tongedanken, einem Ton nachschauen? ja doch!, oder war das mit der Judenharfe gar nicht Lincoln persönlich gewesen, sondern sein Darsteller im Film, Henry Fonda, in »Young Mr. Lincoln«? Und wenn.
Das konnte doch nur ein Traum sein, geträumt von dem in seinem trocknenden Gewand vor dem Gasthauskamin, der Schmiedesse eingeschlafenen Wanderer? Ja, es war ein Traum. Einer von uns im Bootssalon, der an dem Maultrommler-Weltkongreß – noch ein Kongreß also in dieser Geschichte – teilgenommen hatte, sprang für den stockenden Bootsherrn ein und erzählte den tatsächlichen Verlauf der Begebenheiten. Undenkbar, daß die Maultrommler auf dem Podest auf irgendwelche Hymnen verfallen wären – ein Nachtmahr wäre das gewesen. Selbst etwas wie eine Jam session kam bei dem armen Instrument nicht in Frage: um des Himmels willen kein Brummeisen-Jazz. Jeder spielte zum Abschied für sich. Und aus dem Publikum gesellten sich dabei mehr und mehr dazu auf und an die Bühne. Es gab bald kein Publikum mehr, nur noch Spieler, jeder mit seinem kläglichen Atemvibrator wartete auf seinen Moment, und harfte, oder trommelte, oder ließ erdröhnen, oder jagte in die Lüfte, was in ihm und um ihn herum der Fall war. Und so dann auch er, der aus seinen Träumen der Wut aufgeschreckte Hereingeregnete.
Der Ton, den er anschlug, erzählte der Dritte weiter, war besonders. »Inwiefern besonders?« fragte der Wanderer, der begierig schien, zu erfahren, wie er an dem Abend gespielt hatte. »Weniger selbstbewußt als die Töne von uns anderen, von denen ein jeder mit seinem einen Saitenschlag voll für sich einstand.« – »Nicht aus dem vollen habe ich also gespielt?« – »Doch. Aber wie aus einem Abseits. Mit einem anderen Klangraum um deinen Ton.« – »Einem kleineren?« – »Nein, und auch keinem größeren, eher einem fremden. Vielleicht kam das daher, daß du gerade noch tief geschlafen hattest. Es war ein Traumton,
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