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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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einer aus der Scheidelinie zwischen Schlaf und Erwachen, ein Schwellenton. Vorher, bei deinem Eintritt, hatten wir dich, bis auf den Wirt, schlicht übersehen, so unscheinbar hast du gewirkt, vielleicht einer aus dem Reinigungsteam, mit dem Fahrrad aus dem Regen gekommen. Keiner jedenfalls wunderte sich über dein Dazutreten, keinem warst du eine Frage wert. AIYLGY, so lautete das aus Yakutien stammende Motto unseres Weltjahrestreffens, und das sollte bedeuten: ›Mittelwelt‹. Und wir hatten diese alle die Tage weißgott mit unserem Geharfe, Getrommel und Gezupfe aufspielen lassen. Aber du, mit deinem Ton aus dem Abseits, hast unsrer Mittelwelt, unserem Aiylgy, eine andere Gestalt gegeben.«
    Hier wendete sich der Zwischenerzähler ab von dem Gastgeber der Morawischen Nacht, welcher an dem Bericht über sich sich offenbar nicht satt hören konnte, zurück zu uns anderen auf dem Boot und erzählte den Schluß der Maultrommelepisode an uns gerichtet weiter: In einem allgemeinen Staunen fand das Treffen sein Ende, »zwischen Himmel und Wasser«, wie einer der Abschlußredner es ausdrückte. Die Instrumente wurden weggesteckt, in Etuis, die im Vergleich zu den Judenhärfchen, im Ruhezustand in Gestalt eingefrorener, geschrumpelter Gottesanbeterinnen, als etwas geradezu Kostbares erschienen. Vorher waren sie noch ein letztes Mal von Mund zu Mund gegangen, für eine gemeinsame Lippenberührung, und dabei jeweils in ein Schnapsglas getaucht worden. So wie man vorher nicht schlecht gestaunt hatte, so aß und trank man, bis tief in die Donauauennacht, nicht schlecht, der Wanderer inbegriffen, ohne daß einer betrunken wurde. Trunken aber war mancher wohl.
    Das Regenprasseln auf das Ziegeldach, das Feuerfauchen in der Esse und das bevorstehende Auseinandergehen genügten. Einer hielt seine Maultrommel in die Höhe und brach sie entzwei, knickte den Stahlsteg ab. Das war aber kein Malheur, denn das Gasthaus, so stellte sich nun heraus, war zugleich eine Werkstätte für Trommelerzeugung, und der Wirt zugleich der entsprechende Schmied, und nah der Esse stand seine Werkbank, wo er mit einer Eisenfeile und einem Lötkolben ein Ersatzinstrument herstellte – fast hätte der Trunkene sich dieses dann noch kochheiß an die Lippen gelegt.
    Wenn zuletzt nicht mehr gespielt wurde, so wurde dafür umso kräftiger erzählt. Es gab einen Zusammenhang zwischen dem Maultrommelspiel und dem Erzählen, »jewish harp and story telling!« (wie der Amerikaner aus Bay City, Oregon, ausrief), und nicht nur in der vom tagelangen Spiel mit Atem und Instrument modulierten Sprechstimme. Man bekam von dem Spiel Lust zu erzählen. Wie das, an einem so kleinen, schäbigen Ding, nach einem solch monotonen, kaum variierbaren Gebrumme? Ja, Lust, reiner als durch jeden Flöten- und Saxophon-, und gar Klavier- oder Orgelton. Inwiefern rein? Indem auch das Nebensächlichste erzählenswert erschien, gerade das. Es war in der Gasthofnacht dann, als sei ihrer aller tagelanges Maultrommeln bloß das Vorspiel gewesen zum letztendlichen nächtlichen Erzählen. Auch die schöne Mongolin erzählte? Ja, mit den Augen, und mit dem Hals.
    Etwas stimmte freilich nicht. Schon vorher, beim Abschiedsspiel, hatte etwas das Bild gestört. Der eine Maultrommler, der auf einem Bein stand? Nein. Die, welche, virtuosenhaft, gleich zwei, drei Maultrommeln schlugen, abwechselnd im linken und rechten Mundwinkel? Die schon eher, aber das war wohl weniger Angeberei als Übermut und Sichlustigmachen über sich selber. Und dann wurde klar, was so störte. Es waren die Uhren an den Handgelenken der Spieler. Nichts gegen die Saaluhr: die ging wie absichtlich falsch, oder war überhaupt stehengeblieben. Aber alle diese kleinen Uhren beleidigten das Auge, auch wenn die eine vielleicht die Ortszeit in Cancún, die andere in Palermo, und wieder eine die von Kuala Lumpur anzeigte. Und sie stimmten darüber hinaus schwermütig. Es war bei ihrem Anblick, als könnten Erzähl- wie Spielzeit gegen die reale Zeit nichts ausrichten, sie seien, eine wie die andere eitle Illusion, Rauch im Wind, und dazu das falsche Maß. Da half es auch wenig, daß man wie auf Verabredung nacheinander die Zeitmesser von den Handgelenken verschwinden ließ oder sie versteckte unter den Ärmeln. Auch ohne sichtbare Uhren wurde die Normalzeit vordringlich und, je näher das Fest seinem Ende kam, umso bedrohlicher. Und womit bedrohte sie die Feiernden? Mit Vereinzelung, mit Zukunftsslosigkeit. Ach, Gefängnis Zeit.

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