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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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als sei das so von ihm genau eingeplant, gleichsam anstelle eines Schlußpunkts eine Judenharfe, mehrmals, in Abständen der gleiche Ton, und erst allmählich erkannten wir, daß niemand da im Halbdunkel etwa draufloszupfte: nein, das war der Signalton seines Mobiltelefons. Er antwortete nicht. Aber dafür antworteten die Frösche, wie vollzählig, aus dem Schilfgürtel der Morawa. Und wie? Indem aus ihrem eintönigen Quaken ein ebensolches einhelliges Brummen wurde, ein Getrommel, ein wie zornerfülltes, halb unter Wasser. Drohte wieder eine Gefahr in der Enklave? Mußte der Ankerplatz ein zweites Mal gewechselt werden? Oder wollte der Erzähler, siehe den Zeigefinger, den er an die Lippen legte, eine Spannung erzeugen, von der Art, wie wir Zuhörer sie doch gar nicht brauchten? Erst nach geraumer Zeit, das Telefonsignal endlich verstummt, hob er neu an mit der Geschichte, seinem Abstecher zu Ferdinand Raimund nach Gutenstein am Fuße des Schneebergs – wurde aber sofort unterbrochen von unserem Fragensteller, der wissen wollte, wie die Maultrommler aus aller Welt sich denn in ihre Himmelsrichtungen zerstreut hätten?
    Es war eine eher triste Episode, und das Traurige, auch wenn es ihn zeitlebens anzog, war nicht gerade des Erzählers Fall. Wenn sich ihm der Abschied überhaupt als Episode darstellte, so als eine kleine, die kein Kapitel hergab, höchstens eine Glosse, einen Absatz – etwas dazwischen. Sie gingen demnach auseinander in der ersten Morgendämmerung. Der Regen hatte aufgehört. Sie standen im Freien, unter den Bäumen, in dem Dreieck zwischen dem Tagungswirtshaus, der Donau und dem Friedhof, von dem das Wirtshaus seinen Namen hatte, dem »Friedhof der Namenlosen«. Auf dem waren viel früher einmal hauptsächlich die von dem Strom angeschwemmten Leichen der unbekannten Verunglückten und Selbstmörder beigesetzt worden, und noch immer wurden die alten Grabkreuze aus einer Zwischenkriegszeit gepflegt mit Aufschriften wie: »Namenlos – Unvergeßlich!« Die Tristesse eines jeden einzelnen hatte freilich weder etwas zu tun mit dem Friedhof, noch mit dem Übernächtigsein im fahlen Taganbrechen, auch weniger mit dem Sichtrennen – sie glaubten sich anhaltend voneinander bereichert und freuten sich auf das nächste Jahr – als damit, daß sie, nach der gemeinsamen Zeit mit der Judenharfe, dem Khomus, dem Gedankenauslöscher, zurückkehren mußten – »in ihre Herkunftsländer?«, die wieder einmal voreilige Frage des Zwischenrufers – nein, in ihre jeweiligen Berufe dort. Jeder der Teilnehmer an dem Welttreffen der Maultrommler übte ja bei sich zuhause einen ordentlichen Beruf aus. Und sie kamen aus sehr verschiedenen Berufen. Der eine arbeitete als »Experimentalphysiker« bei Paris, der andere als »Linguist« in Kyoto, und wieder ein anderer als »Dachdecker« (»daher mein lautes Organ, vom ständigen Schreien hinunter auf die Straße oder hin zur entgegengesetzten Dachseite«) in Lima. Eine »Handarbeitslehrerin« war unter ihnen, ein »Schneidermeister« (»im Nebenberuf Fußballschiedsrichter«), ein »Wäschereiarbeiter« (»ah, die Dämpfe«), ein »Professor für Kirchenrecht«, ein »Schafhirt« (noch einer), ein »Buschauffeur« (noch einer), ein »Berufsfischer« (an einem österreichischen See), ein »Apotheker« (einer derer mit dem Trachtengewand), eine »Opernsängerin«, ein »Bienenzüchter«, eine »Finanzinspektorin«, ein »Jäger (und Heger)«, ein »Mann von der Müllabfuhr«, ein »Zahnarzt«, eine »Friseuse«, ein »Mannequin« (männlich), ein »Discjockey« (weiblich). Und sie alle erfüllte an diesem Morgen eine Unlust, nah am Grausen, zurückkehren zu müssen, heim – wo immer das war – in ihren Beruf. Und mehr war dazu nicht zu sagen: Ende des Absatzes, Ende der Glosse. – »Die doch so trist gar nicht war«: So unser Zwischenrufer, der es nicht lassen konnte.
    Der Ex-Autor, froh, seinen Beruf los zu sein, in der Folge also vor dem Landsitz Ferdinand Raimunds. Gab es den überhaupt? Hatte es den je gegeben, und hatte der Dichter und Schauspieler damals in dem »Flecken« Gutenstein nah dem Schneeberg nicht bloß ein Zimmer bewohnt, für die Wochen, wie das seinerzeit noch hieß, der »Sommerfrische«? Und wenn vielleicht auch: aus dem ganzen bergüberschatteten, bergbachdurchschallten Ort, dabei doch recht nah an der Hauptstadt, der Spielstadt, wehte dem Ankömmling Raimunds Geist entgegen. Dessen war er sich im voraus gewiß gewesen, und so war er nach

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