Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
Vom Netzwerk:
anderen traten jedenfalls in der Folge eindeutig einzuordnende Individuen, eine schöne Mongolin, ein sonnenverbrannter Usbeke, ein nordspanischer Galizier (da sahen wir uns also wieder), auf das Podium.
    Nein: es handelte sich da nicht um Flüchtlinge. Wenn die vielen, ob im Saal oder nur auf dem Podest, versunken waren, so zugleich aber aufmerksam; eine Versunkenheit, das zeigte der zweite Blick, nicht etwa eines jeden in sich, sondern eine gemeinsame, nach außen gerichtete, auf einen gemeinsamen Punkt hin sich sammelnde. Gab es das? Ja, das gab es. Es war die Erwartung. Gleich würde es, was es auch war, losgehen. Das unterstrich noch die Geste des Wirts, oder des Veranstalters?, der, aus der Thekenferne zu dem Neuankömmling gerichtet, den Zeigefinger auf den Mund legte. Mit der anderen Hand freilich winkte er den Durchnassen – was für ein gastliches, geradezu balkanesisch-gastfreundliches Lächeln in seinen Augen – entschieden hin zu dem granitummauerten, gar nicht zu einem Bauernhof passenden Kamin, wo ein wie ein Hochofen sausendes Feuer brannte und eine Hitze ausstrahlte, daß man sich im Nu »durchtrocken« fühlte.
    Die Lichter im Saal erloschen. Dafür gingen oberhalb des Podiums, zu Häupten der dort dicht auf dicht Stehenden, die Scheinwerfer an, starke. Ein Konzert? Aber wo waren die Instrumente? Keine zu sehen. Eine Gesangsdarbietung, sozusagen a cappella? Bei der Verschiedenheit der Gestalten kaum zu erwarten. Oder doch? Ein Liederkreis rund um die Welt? Urbi et orbi? Gott bewahre uns. Und auf einmal wußte er es; hätte es schon wissen können beim Eintritt durch die Haupttür. Deren Holz war mit einer Eisenform beschlagen, aber nicht wie anderswo einmal üblich mit einem Hufeisen, sondern mit etwas, das für einen Außenstehenden ein Rätsel sein mußte, nicht aber für ihn, den Wanderer: einer Maultrommel. Und zwar hatte deren Form, anders als etwa ein Hufeisen, nicht das Normalmaß. Die Maultrommel, in natürlicher Größe wohl das kleinste Musikinstrument auf Erden, erschien da an der Eingangstür gewaltig überdimensioniert, als Muster in Monumentalgestalt, und vielleicht gerade so hatte er es auf den ersten Blick nicht herausgefunden.
    Wer würde einsetzen, mit dem Maultrommeln anfangen? Doch wohl nicht die zwei Österreicher mit den braunen Trachtenanzügen und den Hirschhornknöpfen, den am Revers totenkopfförmigen? Aber warum nicht?: Ihre Gesichter, mit den in der Konzentration zusammengekniffenen Augen, unterschieden sich kaum von denen der Mongolen und Yakuten, leuchteten, an Stirn und Wangen, nicht anders als des Zulus, des Indios, des Athabasken aus Alaska. Alle dort auf der Bühne hatten ihre »Mundbögen«, »Guimbarden«, »Brummeisen«, »Gedankenauslöscher«, »Judenharfen«, »Khomus« zwischen die Lippen genommen, und man mußte mit den Instrumenten schon vertraut sein, um sie überhaupt als solche zu erkennen und sie nicht für stählerne Zahnstocher oder werweißwas zu halten. Wer finge an? Der weiße Amerikaner aus, sagen wir, Bay City, Oregon, mit dem Cowboyhut und den Oregonstiefeln? Nein, der schob sich unauffällig in den Hintergrund und machte sich unsichtbar. Die junge Frau schlug den ersten Ton, die mit der weißen Pelzmütze, den in sich gekehrten und dabei den ganzen Saal im Blick habenden Augen und den fast bedrohlich geblähten Nasenlöchern, die Mongolin, angereist zu dem Weltmaultrommeltreffen aus der Inneren Mongolei.
    Sie spielte allein. Zwischendurch sang sie auch, ein Vibrieren, das dem des kaum auszumachenden, halb in ihrem Mundraum verschwundenen, zudem von der es haltenden Hand fast verdeckten Instruments entsprach, ihm antwortete, eine Oktave höher? – aber solche zahlentechnischen Angaben wurden weder der Stimme noch den Tönen der Maultrommel gerecht. Wie lange spielte die Mongolin so allein? So lange es der Fall war, so weit ihr Atem sich variieren ließ. Und wenn sie eingangs vielleicht noch eine feststehende, sozusagen traditionelle Weise aus ihrer Gegend, aus der Wüstensteppe oder woher auch, hatte erklingen lassen, so vergaß sie die, bevor sie noch durchgespielt war, vergaß die angestammte heimische Weise mittendrin, geradezu entschlossen, und ging, ebenso entschlossen, dazu über, mit ihrem Atem und dem Finger an der Stahllasche, zum Vibrieren und Ertönen zu bringen, was momentan sowohl in ihr selbst als auch ringsherum – siehe ihre im Kreis durch den ganzen Saal blickenden Augen – eben der Fall war.
    Es war, als gehöre dieses

Weitere Kostenlose Bücher