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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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entschiedene Vergessen des im Kopf, oder wo, von altersher oder seit wann, von einem selbst, von seinem Volk oder Stamm oder wem Vorgegebene und das Übergehen in ein anderes Spiel, eines ohne Wegweiser, ein, je nachdem, freies oder auch in die Irre führendes, zur Natur des Maultrommelschlagens, unabhängig, aus welcher Erdgegend man kam, und unabhängig auch von den doch von Kontinent zu Kontinent recht verschiedenen Formen und Materialien – statt des vibrierenden Stahlstegs etwa einer aus gezwirbelten Tierhäuten – des Instruments. Denn auch die an die Mongolin anschließenden Spieler, der Sizilianer, der Türke aus Konya undsofort, sie alle dann brachen – wenn sie überhaupt etwas Landeseigenes antönten, als ihre Art Erkennungsmelodie – alsbald aus dieser aus und brachten zum Schwingen, was sich in keiner Weise und schon gar nicht in einer Notenschrift bestimmen ließ. Sogar die beiden Österreicher, die zuletzt als einzige gemeinsam, unisono einsetzten, im Rhythmus eines Ländlers, oder war das eine Polka?, gerieten nach den ersten paar Takten willig außer Takt, mit so glänzenden Augen wie alle die anderen vor ihnen, und verfielen, jetzt der, jetzt der, in ein Wechselspiel, das allein aus einem durch die eine Stahlsaite zwischen den Lippen hörbar gemachten Einander-Zuatmen bestand, ein Tönen jenseits von oder eher vor Sprechen und Musik, so wie ja auch die Maultrommel, wenn überhaupt ein Instrument, so eines vor jedem Sprechen und vor jeder Musik war, eine Art Stimmgabel, freilich eine ganz spezielle, zu ihrem so besonderen Klingen gebracht nicht durch ein knappes Anschlagen an einem toten Gegenstand, sondern durch den lang ausgehaltenen menschlichen Atem.
    Dabei, auch ohne, in der Regel eher zum Spaß vorgetragene, Erkennungsmelodie, war bei einem jeden der Spieler, so selbstvergessen er seine Saite schlug und aus der Brusttiefe beatmete, ein von Grund auf verschiedenes Land zu hören. Sein eigenes, sein Umland, sein Stammland? Nicht unbedingt – eher ein unbestimmtes – aber entschieden ein Land – ein Hinterland, ein von dem des vor oder nach ihm Spielenden deutlich verschiedenes. Das Gemeinsame an allen diesen so unterschiedlichen Ländern war dann nur, am Ende des jeweiligen Einzelspiels, deren jähe Verflüchtigung. Wie das? Hör, hört: Es schien ein weiterer Teil der Natur des Maultrommelspielens zu sein, daß dieses einem harmonischen Ende, einem Ausklang widerstrebte. Endete es, wie da und dort in der Tradition, nicht nur in der mitteleuropäischen, harmonisch, mit eindeutigen Schlußklängen, so hatte man, wie bei keinem anderen Instrument sonst, den Eindruck von Betrug, oder wenigstens Verharmlosung. Das geheime wie offenbare Gesetz der Maultrommel lautete: Es gibt bei ihrem Schlagen kein Enden, nur ein Abbrechen. Gutes Ende, falsches Ende. Und: Ihre Spielzeit hat, von Spiel zu Spiel, von Spieler zu Spieler, kurz zu sein, mit langen Abständen zum nächsten Spiel, auch das ein Unterschied zu jedem anderen Instrument sonst. Die Zeit der Maultrommel ist jedesmal schnell um, oft schon nach ein paar Tönen, ja nach einem einzigen Ton. Doch was für ein Ton konnte das sein. Was für ein Vibrieren, wenn es nur im rechten Moment laut wurde, Anfang ohne Ende, und statt Auftakt nichts als Anklang.
    Keine Frage, daß diese Gesetze zeit des Welttreffens da in dem Gasthaussaal außer Kraft waren. Zurückgekehrt danach in seine Erdgegend, würde ein jeder der hier Versammelten, von neuem allein und das Jahr über auch eher nur für sich allein spielend – bis vielleicht auf die Mitteleuropäer –, sich daran halten. Hier dagegen galten, für die paar Tage, von denen das jetzt der letzte war und der letzte Abend miteinander, andere Regeln. Aus keiner Herren Länder hatten sich die Spieler einzeln in das Bauerngasthaus an die Donau östlich von Wien auf den Weg gemacht – auch der eine Amerikaner aus keiner Herren Land, auch der eine Deutsche aus Berlin nicht, und auch nicht der eine Japaner aus Hokkaido. Aber jetzt, gegen Ende, ging ein jeder von ihnen dazu über, eine Melodie aus seinem Herkunftsland auf seiner jeweiligen Maultrommel zu zupfen, zu schlagen, anzureißen, keine alltägliche, sondern die sozusagen für das Land stehende, die Landes- oder Staatshymne, von »Star Spangled Banner« über »Deutschland, Deutschland …« zu »Allons, enfants de la patrie«, von Anfang bis zu Ende, durch alle Strophen. Gespielt auf der Maultrommel, dem Brummeisen, der Judenharfe, dem

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