Die morawische Nacht
schüttete: das war vorzeiten eine gigantische Mühlenanlage gewesen, und verrostete Gleise führten darauf zu und davon weg. Im Windschatten der Mühltürme ein Containerbahnhof, in Betrieb, Neonröhren leuchtend vor den paar zugehörigen Betonbaracken, ohne daß freilich ein Mensch sich sehen ließ. Gehen auf den Gleisschwellen wieder, und wie seit eh und je Vogelskelette zwischen den Bohlen, und dazu das Regentrommeln auf das Blech der Container, vieltönig, gleichsam eine Tonleiter, hinauf, hinunter, zwischendurch auch eintönig, massiv dann und frenetisch, je nachdem, was die Container enthielten, ob sie voller oder leer, oder ganz voll oder ganz leer waren, in vielen Farben jedenfalls durcheinandergewürfelt sie alle, und mit Herkunftsaufschriften aus sämtlichen Erdteilen, und entsprechend in verschiedenen Schrifttypen – nicht einmal die armenischen, georgischen, thailändischen, malaysischen fehlten. Und am Rand des Containerbahnhofs, wo nach dem Steppenstreifen wieder die Auwälder anfingen, dann auch das gewünschte Gasthaus. Es mußte da sein, es war schon von weitem, noch unsichtbar, zu wittern gewesen. Und wie im voraus gewußt auch sein Name: »Augasthaus, vormals Gasthaus der Namenlosen«.
Eine Art Gartenbucht, ausgegrenzt aus Auwald einerseits und Containergewürfel andererseits, umgab das Gasthaus, mit Bäumen, die keine Erlen oder Pappeln waren wie die der Au, sondern zu einem alten Obstgarten gehörten, kahl noch, aber je nach Rinden zu erkennen als Äpfel, Birnen, Zwetschken, Kirschen. Alt, viel älter noch, war auch das Haus, langgestreckt, eingeschossig, mit einer Reihe von sehr kleinen Fenstern, allesamt nah dem Grasboden, als sollte man durch sie auch ein- und aussteigen können. Mit Steinziegeln gedeckt das noch einmal so hohe flachwinkelige Dach, mit vorspringenden Luken darin, welche die der Jugendstrafanstalt wiederholten, wenn auch nur für eine Schrecksekunde. Hellgelb und frisch der Verputz des Hauses, mehr Bauernhaus als Gasthof. Jedoch es war ein Gasthof wie nur je einer, das wurde klar allein an dem Rauch, der oben aus dem Rauchfang heraus den Regen wegblies, so stark stieß er hervor, und das zeigte doch wohl, auch ohne parkende Autos zwischen den Bäumen, wo man angekommen war; die Lettern über der eher schmalen Tür erübrigten sich fast.
Eingetreten, klatschnaß oder, mit einem Wort von früher, durchnaß. Dunkler leerer Flur, unbeleuchtet, der nun doch an den eines alten Bauernhauses gemahnte, so kalt war er außerdem. Kein Laut. Wo eintreten? Ah, da: »Gaststube«. Und unversehens fand er sich dann, auch das wie gewünscht, unter Menschen, unter vielen. Zu vielen? Nein. Zuerst meinte der Wanderer, in einem Flüchtlingslager zu sein – so mit sich selber beschäftigt wirkte ein jeder der Leute in dem einzigen Raum, auch so versunken, eher weggesunken. Kaum einer hob bei seinem Eintritt den Kopf, bis auf den Wirt, wenn das dir einer war, in der Schank – wenn das dir eine war. Insassen eines Flüchtlingslagers? Dazu paßte, daß viele unter den vielen nicht an den langen Tischen, auf den Bänken dort, saßen, sondern auf dem bloßen Boden, oder sogar da hockten, auf den Fersen. Gedrängtheit, so war der erste Eindruck, nah am Gedränge. Dem Bild von einem Auffanglager entsprach zunächst auch, daß diese vielen gemischt aus sämtlichen Rassen, oder wie das halt hieß, waren, Mongolen mit Afrikanern, unter diesen Zulus und, oder täuschte er sich?, Pygmäen, Eskimos, unverkennbar, mit ebenso unverkennbaren Anden-Indianern, Tibeter, die hier freilich ohne das weltweit bekannte Lächeln, mit, war das möglich? ja, australischen Ureinwohnern, die hier freilich ohne Lendenschurz, mit Anzug und Krawatte … Aber wie kamen die, zum Teil ebenfalls auf dem bloßen Bretterboden lagernden, hundertprozentig Einheimischen, in Trachtengewändern einige – steirischen? kärntnerischen? das war ihm in der langen Abwesenheit entfallen –, wie kamen die unter die Flüchtlinge? Und wie erst der hochgewachsene Ire dort, in einem eleganten knöchellangen Staubmantel, rothaarig, wie konnte das anders sein, der sich jetzt gerade aus der Menge löste und auf ein bis dahin leeres Podium, hinten an der Saalwand, sprang? Und wie der natürlich stupsnasige, natürlich wikingerblonde Skandinavier, im pelzbesetzten Anorak, der dem Iren nun nachtat? Und waren inzwischen auch Japaner, Nordamerikaner, Bundesdeutsche, gar welche von uns Österreichern, hier im eigenen Land, Flüchtlinge? Einer nach dem
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