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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Kehr zurück, Traumstoff, Spielstoff.
    Das einzige, was übrigblieb, war der Trotz. Den warf man einst den Balkanleuten vor, als die unter all unseren üblen Eigenschaften übelste. Und der wird uns weiter vorgeworfen, und heute wie damals von den fremden Mächten, wozu auch gehört, daß das gebräuchliche Wort für Trotz nicht unser eigenes, sondern ein Lehnwort ist, aus dem Sprachschatz der zeitlängsten der Besatzungsmächte, ein Lehnwort und ein Schimpfwort. Aber solch ein Trotz war vielleicht das einzig Mögliche und etwas gar nicht Böses, konnte vielmehr das letzte Mittel zur Selbstbehauptung sein, und etwas Schönes ausstrahlen, und das hieß, etwas Bewegendes und Einendes, und war, solcherart Trotz, übertragbar vom Balkan auf alle die im Diktat der Normal- und Realzeit von der Vereinzelung Bedrohten dieser Erde?
    Der geschmähte Trotz, er konnte eine Kraft werden? Ein Handeln hervorrufen – zeitigen?
    Unser Gastgeber hatte vergessen zu erzählen, daß auch Kinder in dem Saal waren. Jetzt erst fielen sie ihm ein, in jener Nacht auf der Morawa, und daß die letzte Episode der anderen Nacht, der mit den Maultrommlern aus den fünf Erdteilen, mit ihnen zu tun hatte. Er konnte uns anderen nicht sagen, wessen Idee es gewesen war, diese Kinder auf die Bühne zu holen, damit sie sich am Zupfen des Instruments versuchten. Jedenfalls trat jeweils ein Kind nach dem andern auf das Podest. Sie alle hielten sich das Stahl- oder Sonstwie-Gestell an den Mund und klemmten sich dessen Randleisten zwischen die Zähne, wie sie es von den Großen abgeschaut hatten; schlugen ebenso mit Daumen oder Zeigefinger die von dem freistehenden Mittelsteg des Gestells ungefähr im rechten Winkel abgeknickte, schmalere, leicht gekrümmte Lasche, brachten das lose Mittelstück, wie es sich gehörte, vor dem offenen Mundraum zum Vibrieren, atmeten dazu nach Kräften aus und ein. Sie waren durch die Reihe versessen, endlich dranzukommen und spielen zu dürfen. Aber die meisten, so sehr sie auch zupften und drauflosbliesen, brachten keinen Ton hervor; nichts wurde von ihrem Spielversuch hörbar als ein blechernes Geklapper und dazu ein Geschnaufe, Gepruste und Gestöhne, an die Geräusche von Kindern erinnernd, die aufgefordert worden sind von einem sie abhorchenden Arzt zum tiefen Ein- und Ausatmen. Einige schafften zumindest den Ansatz oder die Ahnung von einem Klang, wenn auch so leise und mit einer Reichweite, daß er in dem dabei mucksmäuschenstillen Saal gerade nur zu den Nächststehenden schwang, oder gar bloße Einbildung blieb. Noch und noch Anweisungen und Ratschläge wurden derweil den Kindern von den »Weltmeistern« gegeben, so als hätten diese nicht gewußt, daß sich das Maultrommelspiel nicht lehren ließ. Da war nichts zu »können«.
    Ein Kind, ein einziges, schickte dann freilich ein Dröhnen in den Raum, das, hast du so etwas schon gehört?, für Erlösung sorgte und alle weiteren Versuche erübrigte. Dabei hatte es sich vor dem Podium lange gesträubt. Es war dick, sommersprossig, stupsnasig, bebrillt, mit einem Seitenscheitel und einer Spange, damit ihm die Haare nicht in die Stirn fielen. Unwillig, mit verkniffenem Gesicht, wie blind, stand der Junge da, das ihm fast gewaltsam aufgedrängte Instrument von sich weghaltend. Und erst mit fremder Hilfe sozusagen hob er es an die Lippen, und mehr wurde ihm die Maultrommel zwischen die Zähne geschoben als daß er sie selber schob. Kaum dort am Platz, röhrte sie freilich los, durch den ganzen Saal, lauter als eine Elektrogitarre. Vollkommen unwillkürlich, ohne Absicht, ohne Vorbereitung, hatte das dicke Kind sie zum Erklingen gebracht; nicht einmal eigens Atem hatte es geholt, und wenn, so nicht zum Spielen. Erschrocken war es für einen Augenblick von dem, was ihm da passiert war, schreckensstarr, und selbst aus dieser Starre heraus machte sich dann ein Folgeton Luft, ein anders mächtiger, weit jenseits seines Schreckens oder sonst eines Gefühls. Und jetzt endlich strahlte der Dicke, verlegen zwar, verschämt, und spielte von sich aus los. Gar nicht mehr aufhören wollte er, bis man sich eine andere Erlösung wünschte, von ihm, der zuvor die Versammlung erlöst hatte. Und wem gelang es, ihn zu unterbrechen? Unser Wanderer, stell dir vor, war das, indem er die Stimme erhob und die Maultrommlergesellschaft für das nächste Jahrestreffen auf den Balkan einlud, mitsamt »dir, Kind!«.

 
7
     
    Nachdem er bis hierher erzählt hatte, erklang auf dem nächtlichen Boot,

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