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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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serienmäßig fabrizierten, keinen Autos (die fuhren wie allüberall), keinen Fernsehern (nicht einmal den auf Hinterhöfen ausrangierten Uraltmodellen), und dergleichen mehr. Und andrerseits sprach auch kein Ortsgeist aus den eindeutig alten Manufakturen, aus den Handwerkserzeugnissen längst vergangener Epochen: stumm blieben die hölzernen Galerien des neunzehnten Jahrhunderts, die ebensolchen Gartenhäuschen, die bemalten Schützentafeln auf den Veranden, die in den verbliebenen Remisen abgestellten oder in den Vorgärten als Blumenkästen, in Terrassen, aufgestellten Kaleschen. Sprachlos auch alle die da und dort in den Häusern beim Vorübergehen eräugten Biedermeierschränke, -kommoden, -lehnstühle, überhaupt jeder Gegenstand aus Raimunds Lebensperiode selber, ob Ölbild oder früheste Photographie(?), so wie es selbst die persönlichen Sachen des Dichters geblieben wären, sagen wir, sein Sommerfrischenbett, sein Schreibtisch, sein Federkiel(?), sein Bett (wahrscheinlich kinderkurz), weswegen der Ortsdurchquerer eine etwaige Gedächtnisstätte von vornherein mied. Was ihn ansprach und den Dialog auslöste, einen so lebhaften, beseelten, wie er ihm mit einer leibhaftigen Person so selten glücken wollte, das waren, mit den Bachsteinen und dem von unten ihn anwehenden Bachwind, fast durchwegs die sogenannt zeitlosen Gegenstände am Straßenrand, eine mehr schlecht als recht zusammengezimmerte Sitzbank, ein undefinierbarer einzelner Stuhl in einem Vorhof, ein weder extra altes noch eindeutig frischlackiertes Bienenhäuschen, eine Holzleiter, ja auch ein Fahrrad, von irgendwann, ein neben einer Haustür lehnender Haselstock von irgendwo, eine Blumenkiste mit nichts als Sand gefüllt, ein Beschwerdebriefkasten, der erst im nächsten Herbst, wenn überhaupt, geleert würde, eine staubige Mütze auf einem Fensterbrett, eine Reihe grauverwitterter Wäscheklammern an einer Leine, eine Irgendwie-Laube, eine Irgendwie-Obstbaumstütze, ein Aborthäuschen in einem Hinterhof, mit einem aus der Tür gesägten Herzen, oder auch nicht.
    Wo er hinschaute, richtete Ferdinand Raimund in seinem Gutenstein das Wort an ihn, sprach dann nicht bloß aus den örtlichen Gegenständen, sondern auch aus der einen und anderen still auf einem Schuppen liegenden Katze – keinmal freilich aus einem noch so tief schlafenden Hund, »Achtung, Tollwutgefahr!« und ebenso aus den Augen, Wangenlinien, Schultern (den oft berglerisch leicht gebuckelten) der Bewohner, eher der älteren – seltsam, bei dem ziemlich früh Verstorbenen –, und insbesondere den baumelnden Armen und, womöglich noch vernehmlicher, aus den Haarwirbeln der gerade nach Schulschluß mehr heimbummelnden, -trödelnden als -strebenden, oft einander noch ein Stück begleitenden Kindern.
    Und wie ging der Dialog zwischen den beiden, ja, alten Kumpanen? Ungefähr folgend: Ferdinand Raimund: »Sei begrüßt, Freund. Zeit, daß du dich in Gutenstein sehen läßt. Was führt dich zu mir? Was willst du wissen? Frag mich alles – nur nicht, wie man glücklich und zufrieden wird.« – Der Orakelbefrager: »Gibt es noch Märchen zu erzählen wie die deinigen?« – »Nein. Oder bestenfalls in Bruchstücken, Märchen, die eine Sekunde dauern.« – »Hätte ich, statt aufzugeben, weiterschreiben sollen?« – »Nein. Denn du bist, wie ich, unfähig, vom Bösen zu erzählen und einen Bösen, einen von Grund auf Schlechten darzustellen. Und es gibt die Teufel, damals wie jetzt, und jetzt schlimmer denn je. Ich, zu meiner Zeit, konnte den, kraft der Zaubermärchen, noch wegzaubern. Du, heutzutage, aber – Und außerdem zauberte ich auch als Schauspieler. Ein Freudentumult erhob sich im Publikum bei meinem Spiel. Du aber – du aber bist vielleicht ein Spieler, aber kein Gewinner. Und auch als Schreiber wärst du inzwischen ein Verlierer. Denn bei dir, wie zu meiner Zeit bei mir, würde das Gute siegen. Und anders wie mir würde niemand mehr dir glauben. Denn was allüberall siegt, kann nur noch das Böse sein, der Teufel halt, der süßlich grinsende, mit dem bösen Willen – der die Entzweiung will, wie zwischen Mensch und Mensch, so zwischen Volk und Volk.« – »Geht's nicht weniger eindeutig, Ferdinand?« – »Dann frag mich unbestimmter, Bruder.« – »Warum scheue ich, seit meiner Ankunft hier in unser beider Land, so zurück vor dem direkten Weg heimzu, ins Dorf, von wo ich herkomme, oder was davon übrig ist? Warum beschreibe ich Umweg um Umweg, Abstecher um Abstecher, um

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