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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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den Eintritt in mein Geburtshaus hinauszuschieben? Warum kommt mir vor, ich würde mich dort nähern einer verbotenen Zone? Einer Todeszone? Achtung, Todeszone!?« – »Frag mich was anderes. Im Ort eines Selbstmörders ist kein Platz für ein Wort mit ›Tod‹. Und außerdem: Ja, weißt du denn nicht, lieber Freund, daß es das Eigen des vernünftigen Menschen ist, nicht über den Tod nachzudenken, sondern einzig über das Leben?« – »Und in gleicher Weise auch über die Liebe? Eine Zeitlang unterwegs war die mein einziger Gedanke. Ein Gedanke gab da den anderen, und entsprechend ein Satz, im stillen an die Geliebte gerichtet, den anderen. Aber wie kommt es, Zauberer, daß ich, seit ich zurück in unser beider Land bin, diese Gedanken mehr und mehr gewollt herbeidenken muß, daß die entsprechenden Worte und Sätze mehr und mehr rhetorisch werden – nicht innig theatralisch wie bei dir –, und sich kaum mehr an die Ferne, die Fernnahe richten, sondern keinerlei Richtung mehr haben, flugunfähig sind, wenn sie, die Worte der Liebe, nicht überhaupt ausbleiben? Wie kommt das: Heimkehr und drohende Lieblosigkeit? Oder noch ärger: Heimzu und Hintergedanken? Heimat und Argwohn?« – »Ach, sprich mir nicht von Liebe, Brüderlein – nicht mir. Die Liebe, insbesondere die zu einer Frau, gehört nicht zu meinem Wortschatz, und auch nicht Heimkehr und Heimat. Zwar bin ich ein Illusionist. Aber ich kenne meine Grenzen. Und die heißen Argwohn und Verdacht.
    Oder meinetwegen Mißtrauen, gesundes. Gesundes? Ungesundes, kernungesundes. Meinen Lebtag lang lebte ich mit dem Gedanken, eine Frau wird mich retten, wer sonst als eine Frau? Und ich hatte es so nötig, gerettet zu werden, Freund, immer wieder. Und dann, immer wieder: Achtung, Frau, Achtung, Verrat, Achtung, Todeszone. Und dann immer wieder die Zeiten, da ich Antonie nicht einmal schriftlich nahe war. Abwesende, hast mein Vertrauen verloren. Und dann war ich bei ihr. Und dann haben wir gezankt. Und dann wieder. Und dann sind wir wieder gut geworden. Und dann haben wir uns unter der Mariensäule in Neustift am Walde ewige Treue geschworen. Und dann haben wir wieder gezankt, und sie ist lange nicht mehr zu mir heraufgekommen. Ich habe sehr Kopfschmerzen gehabt. Die Zeit war nicht gut. Böse Abwesende! Und dann sind wir nach Gutenstein gefahren, wo ich sehr traurig war. Und im Zurückfahren waren wir wieder gut, und haben viel Freude aneinander gehabt. Und dann habe ich mich mit der Pistole in den Mund geschossen, nicht aus Angst vor der Tollwut, sondern der Frau wegen. Es wird einem nichts geschenkt. Es wird einem viel geschenkt.« – »Was tun, Ferdinand?« – »Keine Gefahr ist vorbei. Nicht einmal auf den Hunger ist mehr Verlaß. Warum kommen die Menschen nur noch in den Zeitungen vor? Schreib trotzdem, schreib mit. In einem Dorf gibt es viel zu sehen. Du bist hier in der Fremde, sei friedlich! Zahlt sich das denn aus, all das Überleben? Niemand wird dich retten. Es ist eh alles Gnade. Es begibt sich noch viel. Kein Grund zur Freude. Nenn mich nicht Dichter, nenn mich Luftmaterialsammler. Und Aschenmann. Asche zu Asche, Luft zu Luft. Mich wundert ein jeder, der fröhlich ist. Bleib bei der Wahrheit, und suche sie. Eigentlich sollte man den ganzen Tag nur Bleistifte spitzen. Alle haben sich in Sicherheit gebracht, und wir zwei uns auch nicht. Wieder nichts – und alles splittert. Lauf bis zum Fliederbusch. Heute ist Montag, und der Montag ist ein guter Tag, auf den Berg zu gehen. Zärtlich will geschieden sein. Die Sonne ist so etwas Freundliches. Bleib mir weiter so unauffällig. Einmal am Tag wird dir weiterhin etwas grün werden. Oder auch nicht. Es gibt keine paradiesischen Tage. Und am Ende weiß keiner nichts. Ratlos muß geschieden sein.«
    Auch längst aus Gutenstein heraus, auf dem Weg zum Schneeberg, blieb der Wanderer in der Sphäre Ferdinand Raimunds. Nicht bloß unsichtbar dachte er sich in ihr, sondern auch unverwundbar: »Es kann mir nichts geschehen!« Zudem fühlte er sich buchstäblich von ihr beflügelt, flog den Weg bergauf, der dabei doch immer steiler wurde. Hinter jeder Wegbiegung und Kuppe setzte beider Zwiegespräch, oder eher Durcheinandergestammel, neu ein. Es war die Ekstase, vor welcher er sich, nach lebenslanger Erfahrung, eigentlich hätte hüten sollen. Aber das kümmerte ihn jetzt wieder einmal nicht, und es zählte auch nicht, daß er nach einiger Zeit weder Weg noch Steg mehr unter den Füßen hatte; wo er stieg und

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