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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Gutenstein, Niederösterreich, aufgebrochen, und so war es dort auch nach seinem ersten Schritt hinter die Ortstafel eingetroffen. Noch ein jedesmal hatte sich das bisher erfüllt mit den Lokalitäten der Vorgänger, oder eher Vorspurer, als deren Nachfolger, oder eher wohl Nachzügler, er sich im Verlauf seines früheren, seines Schreiberlebens gesehen hatte. Der Geist derer, die ihn auf die Spur gebracht hatten, wehte ihn verläßlich an, umfing ihn, umspielte ihn, redete zu ihm, sooft er sich zu ihren Orten auf den Weg machte, mochte es die auch bloß noch dem Namen nach geben, Namen in der Leere mit nichts als Brachäckern, brackigen Totarmgewässern, Baumstrünken, wie das »Andes« des Vergil nah dem Ufer des Flusses Mincio, eine in Gestrüpp endende Sackgasse an einem unbebauten Schutthügel, von dem des Sophokles »Kolonos«, sagen wir, seinen Namen hatte: gerade da, im Nichts und wieder Nichts, ohne gleichwelche Memoralien, sprach der Geist vielleicht am kräftigsten zu einem, und in den kleineren Orten, wie Oxford/Mississippi, Višegrad /Bosnien, Cleversulzbach/Württemberg und eben Gutenstein/Niederösterreich deutlicher als in den großen Städten – dort, ob in St. Paul/Minnesota, in Taganrog, in Oslo, in Lüttich, wenn überhaupt, so höchstens in einer wie ausgestorbenen Seitenstraße.
    Keine Wißbegier zog ihn in die Bereiche derer, die ihm im Lauf des Lebens die Nächsten geworden waren. Oder doch: Er wollte an Ort und Stelle etwas wissen, wenn auch nicht von den Orten, sondern von dem, dessen Geist dort, das stand für ihn außer Frage, residierte. Nur mußte er dazu eben hin zu dem Ort. Nur dort bekäme er Bescheid. Doch wohl keine Wallfahrtsorte? Bewahre: Orakelstätten. Gab es denn Abwegigeres? Nein. Diesen Orakeln, diesen Anwehungen konnte er, konnte man – nein, nicht glauben – vertrauen. Es war nichts zu glauben an ihnen. Und auch nichts zu verstehen, weder Eindeutiges noch Zweideutiges, sondern einzig und allein, umso besser, Bahnhof. Aber wie kam es, daß er sich sozusagen auf du und du wähnte mit diesen Geistern und als Belohnung für seinen Besuch bei ihnen auf Schritt und Tritt die Ohren spitzte für ihre Ansprache? Er war einem jeden von ihnen damals in seiner Aufschreibezeit begegnet. Das hatte sich jeweils nur einmal ereignet, einen Satz lang vielleicht nur oder, wenn es hoch kam, einen Absatz lang, manchmal gerade für den Moment eines niedergeschriebenen Ausrufs, ja da wohl am häufigsten. Für diesen einen, mehr oder weniger langen Moment fühlte er sich als einer ihresgleichen. Und etwas anderes als den einen Moment brauchte er auch gar nicht. Durch ihn erfuhr er die Anwesenheit der Vorgänger, von der Vorzeit an bis jetzt. Jetzt! und jetzt! und jetzt! war er mit ihnen, war für den Moment der Zwillingsbruder des John Cowper Powys, des Cervantes, der Patricia Highsmith, der Katherine Mansfield, des Eduard Mörike, des Georges Simenon, und dieses Jetzt, obwohl es noch schneller vorbeiflitzte als etwa eine Sternschnuppe, würde nie mehr vergehen. Es war von der Kalenderzeit nicht zu zerstören. Er würde mit jenen Schreibern für immer in einem Raum gewesen sein, oder seinetwegen in einem Nebenraum, angrenzend dem ihren, so wie ein Gemach, eine morada , eine Zelle, in dem durch die Teresa von Avila beschriebenen »Schloß der Seele« an das, an die andere.
    So war es ihm einmal auch ein Zeitatom, eine Sekunde lang in einer Schreibexpedition mit Ferdinand Raimund zugestoßen. Unvermutet, versunken in einen Dialog, eher einen beiderseitigen Monolog, noch eher in ein zweifaches, tagtraumhaftes Beiseite, hatte er den Zaubermärchenschreiber an seiner Seite gewußt, und sich selber als einen von dessen Weitererzählern, eine Zweitstimme, einen Wiederholer? – einen Wiederaufnehmer. Und so war er jetzt bei seinem Genossen in Gutenstein und ging bachauf durch den Ort in dem sich verschmälernden Tal auf den Schneeberg zu. Und siehe, der Geist des Ortes – aus sich allein hätte der keinerlei Geist ausgestrahlt – wurde nicht nur beredt und sprach in einem fort auf den Ankömmling ein, sondern zeigte sich in gleicher Weise ansprechbar, löste ihm die Zunge, verwickelte ihn in ein Wechselgespräch. Vor allem aus den Dingen, wie sie quer durch Gutenstein standen und lagen, sprach der Ortsgeist, und dabei weniger aus denen der Natur, dem Bach, den Bäumen, als aus den gemachten, den hergestellten, den verfertigten, aus den handgemachten, handwerklich erzeugten, freilich nirgends aus den

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