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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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kletterte, auf einem Geröll hinauf oder in einer Felsrinne, da schuf er selber in der Einbildung einen Weg. Und im Nu – so kam es ihm zumindest vor – geriet er in den Schnee, den Gipfel, die verschiedenen Gipfel des Bergs, der so seinem Namen entsprach, zwar noch weit, aber durch das klare Blau wie schon in Stein- oder Schneeballwurfweite. Er schnürte ohne ein Innehalten über das wie gleichmäßig mit Firn bedeckte Hochplateau, nah schon der Baumgrenze, und stolperte unversehens in einen Trichter, eine Karst-Doline, die in der Relieflosigkeit auch durch den in ihr besonders hoch angewehten Schnee kaum auszumachen gewesen war. Und da lag der Wanderer. Selbst aufgerappelt, stand er unten im Krater, bis über die Hüften im Schnee, und – er sah sich selber dabei wie von außen – schaute blöd. »Verfluchter Schnee!« Wer dann oben an den Schüsselrand trat und ihn, mit von ihm abgewendetem Kopf, mit einem schwarzen Auge beäugte, das war eine Gemse, eine leibhaftige diesmal. Und nachdem sie ihn von oben herab lange so angeschaut hatte, rutschte sie auf dem Hinterteil, als ihr eigener Schlitten, in die Doline zu ihm, stellte sich da auf die vier Beine und bedeutete ihm, im Klartext, nicht gestammelt wie der Taldialog zuvor: »Genug im Abseits. Schluß mit dem Alleingehen. Im-Stich-Lasser! Der Verräter, das bist du, die Verräter, das seid ihr. Bist mir ein Wilder. Aber ein veralteter, ein verkommener. All deine falschen Ekstasen. Da siehst du wieder einmal, wohin sie führen: in ein Schneeloch, in die Schneeblindheit. Zurück in die Sphäre der Lebenden, der Heutigen, der Augenpaare. Ich werde dich nicht retten, ich nicht. Aber ich habe auch keine Lust, deinem poetischen Sterben in Weiß und Blau hier zuzuschauen, tagelang. Auf mit dir, du Tiefland-Trottel.« Und half ihm das auf? – Wie denn hätte er sonst in der Morawischen Nacht uns davon erzählen können?
    Eine Zeitlang war er in der Folge kein Wanderer mehr. Er ließ sich fahren, und zwar, wenn ihr es wissen wollt, mit dem Zug, und wenn ihr es noch »genauer« wissen wollt, so nahm er, nachdem er sich nach Puchberg am Schneeberg samt Sack und Pack durchgeschlagen hatte, dort die spätnachmittägliche Lokalbahn ostwärts nach Wiener Neustadt und stieg dort um in den Schnellzug südwärts Richtung Kärnten und Steiermark; er wußte noch nicht, in welchem Bundesland er in der Nacht aussteigen würde. Das Gefühl der Sicherheit im Transportiertwerden genoß er dabei nur kurz. Bald schon vermißte er die Gefahr. Für eine Beschwichtigung sorgte wieder der Gedanke, daß es wohl genügte, für einmal am Tag auf der Kippe gestanden zu haben. Außerdem sagte er sich, daß die Gefahr, wenn nicht von außen, so verläßlich aus ihm selber käme. Er persönlich verkörperte die Gefahr; war seine eigene Bedrohung, insbesondere seit er seinen Beruf hatte sein lassen – nicht mehr arbeitete. So hatte er auf seinem Unterwegssein bisher täglich eine Gefahr überstanden? Ja. Und warum hatte er sie uns anderen verschwiegen? »Unsinn: keine Gefahr habe ich euch verschwiegen – ihr habt nur nicht richtig zugehört. Wäre meine Reise eine Bootsreise gewesen, so würde sie von hundert verschiedenen Arten des tagtäglichen Fast-Kenterns handeln.«
    Es war eines der letzten Male, daß der Zug die weit mehr als jahrhundertalte Strecke über die Berge, über den Semmering nahm. Demnächst würde der Tunnel eröffnet. Waren die Abteile deswegen so voll? Kein Sitzplatz mehr frei, und Gedränge selbst in den Gängen. Ganz recht war ihm das, und das nicht bloß nach seinem langen Alleinwandern. Ihm war, als sei er über die Zeit hinaus von niemandem, von keinem lebenden Menschen wenigstens, gesehen worden. Es gab keine Erinnerung mehr an ein menschliches Auge, das ihn mit einem auch bloß flüchtigen Blick betrachtet hätte, und solch ein Wahrgenommenwerden fing an, ihm zu fehlen. Der Blick in den Spiegel genügte nicht mehr, und außerdem mied er ihn, oder vergaß ihn. Etwas Sonderbares kam dazu: Er, dem es in seiner Epoche als öffentliche Person eine Pein gewesen war, auf der Straße oder wo erkannt zu werden, wünschte sich jetzt, jemand in dem Zug möge ihn endlich erkennen, ein einziger, ein einziges Wesen, und zwar als den, der das und das hervorgebracht hatte, auch wenn das nun schon länger her war. Falls er bisher »im eigenen Land« – unwillkürlich kamen diese drei Worte in den Sinn – dem und jenem vielleicht aufgefallen war, so höchstens als ein vage

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