Die Morde des Herrn ABC
Sie nicht auch?»
«O gewiss! Ganz ohne Zweifel.»
Das äußerte er so geistesabwesend, dass wir ihn alle verwundert ansahen.
«Bedrückt Sie trotzdem noch etwas, Monsieur Poirot?»
«Ja. Etwas bedrückt mich sogar sehr. Und zwar das Warum! Das Motiv.»
«Aber, mein Bester, der Mann ist geistesgestört!», fuhr ihn der Commissioner fast barsch an.
«Ich verstehe genau, was Monsieur Poirot meint», kam Crome meinem Freund zu Hilfe. «Diesen Untaten muss eine klar erkennbare Besessenheit zu Grunde liegen. Ich persönlich denke, dass wir als Wurzel des Übels ein schweres Minderwertigkeitsgefühl erkennen werden. Vielleicht ist auch Verfolgungswahn dabei, und wenn ja, dann schließt dieser auch Monsieur Poirot mit ein. Der Mörder bildet sich vielleicht ein, dass Monsieur Poirot eigens dazu da sei, ihn zur Strecke zu bringen.»
«Ja – ehern – ja», brummte der Commissioner. «Das sind so die heutigen Fachausdrücke! Zu meiner Zeit war ein Mensch verrückt, und man suchte keine wissenschaftlichen Erklärungen dafür. Wahrscheinlich würde ein moderner Arzt raten, diesen ABC in ein Sanatorium zu schicken, wo man ihm so lange freundlich klar macht, dass er ein feiner Kerl ist, bis er als wertvolles Glied der menschlichen Gemeinschaft wieder hinausgelassen werden könnte!»
Poirot lächelte, aber er antwortete nichts darauf. Die Konferenz war beendet.
«Also schön», sagte der Commissioner und erhob sich, «dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis wir ihn haben, Crome.»
«Wir hätten ihn längst gefasst, Sir, wenn er nicht so unauffällig aussehen würde. Es sind schon genug harmlose Bürger zu Unrecht belästigt worden seinetwegen.»
«Ich frage mich, wo der Kerl jetzt gerade sein mag!»
30
Nicht von Hauptmann Hastings selbst erzählt
M r. Cust stand vor einem Gemüseladen.
Er betrachtete unverwandt das Haus gegenüber.
Ja, das war es: Mrs. Ascher – Zeitungen und Tabak. Im leeren Fenster klebte ein Plakat… Zu vermieten… Leer… Leblos…
«Entschuldigen Sie!»
Es war die Frau des Gemüsehändlers, die nach einigen Zitronen griff. Er trat beiseite.
Langsam schlurfte er die Gasse hinunter – wieder der Hauptstraße entgegen…
Es war schwierig, sehr schwierig… jetzt, da er kein Geld mehr hatte…
Wenn man einen ganzen Tag lang nichts gegessen hat, dann wird einem ganz merkwürdig, so wirr im Kopf…
Er blieb vor einem Zeitungskiosk stehen.
Der ABC-Fall. Mörder noch immer auf freiem Fuß. Interview mit Hercule Poirot.
«Hercule Poirot… Ich frage mich, ob er weiß…», sagte Mr. Cust laut vor sich hin. Dann ging er wieder weiter. Es war nicht klug, zu lange vor diesen Zeitungen stehen zu bleiben.
Dann dachte er: Ich kann nicht mehr…
Immer einen Fuß vor den anderen setzen… Eigentlich komisch, wie der Mensch sich fortbewegt… Ein Fuß vor den anderen lächerlich. Sehr lächerlich sogar.
Aber der Mensch war eben überhaupt ein komisches Tier…
Und er, Alexander Bonaparte Cust, war ganz besonders komisch… Immer gewesen… Immer hatten die Menschen ihn ausgelacht… Er konnte ihnen das nicht einmal übel nehmen…
Wohin ging er überhaupt? Er wusste es nicht. Er war am Ende angelangt. Jetzt sah er nur noch seinen Füßen zu… Ein Fuß vor den anderen…
Dann blickte er auf. Lichter. Buchstaben dicht vor ihm… Polizeistation.
«Das ist aber drollig», sagte Mr. Cust und musste lachen. Er trat ein. Plötzlich schwankte er und fiel vornüber.
31
E s war ein klarer Novembertag. Dr. Thompson und Chefinspektor Japp waren gekommen, um Poirot das Resultat des polizeigerichtlichen Verfahrens gegen Alexander Bonaparte Cust mitzuteilen. Ein leichter Bronchialkatarr hatte Poirot gehindert, den Verhandlungen beizuwohnen.
«Wie sehen Sie die ganze Sache, Doktor?», wandte Poirot sich an Thompson.
«Den Fall Cust? Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich sagen soll. Er spielt den Gesunden bemerkenswert gut. Natürlich ist er Epileptiker.»
«Die Lösung des Knotens war ja erstaunlich!», sagte ich.
«Dass er wie ein Klotz direkt in die Polizeistation Andover hineinfiel? Allerdings, kein Theaterstück hätte dramatischer enden können. ABC wusste ja seine Effekte immer sehr geschickt zu setzen.»
«Ist es möglich, dass man ein Verbrechen begeht, ohne dass man sich dessen bewusst ist?»
Dr. Thompson lächelte ein wenig über meine Frage.
«Nun, sein Leugnen klang doch stellenweise durchaus glaubwürdig!»
«Sie dürfen sich nicht von der theatralischen
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