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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Ibbotson
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und einer dunkelroten
Strickjacke; ein grauhaariger Mann. Nicht Quin, der in einer Woche abreisen
würde, und Ruth war froh.
    «Sie können jetzt Ihre Blätter
umdrehen und anfangen», sagte die Frau mit dem Knoten mit klarer, heller
Stimme.
    Papier raschelte. «Lesen Sie die
Fragen mindestens zweimal durch», hatte Dr. Felton gesagt. «Hetzen Sie nicht.
Wählen Sie aus. Überlegen Sie genau.»
    Aber es war besser, nicht zu lange
auszuwählen und zu überlegen. Jedenfalls an diesem Morgen ...
    «Was versteht man unter der Theorie
des allometrischen Wachstums?» Das konnte sie; das war eine Frage, die sie
unter anderen Umständen mit Vergnügen in Angriff genommen hätte – eine Frage,
bei der man ein bißchen brillieren konnte. «Diskutieren Sie Osborns Konzept der < Aristogenese > bei der Entwicklung fossiler Wirbeltiere.» Das war auch
interessant, aber vielleicht war es besser, wenn sie sich zuerst die Frage für
die geistig Minderbemittelten vornahm – Frage Nummer 4. «Schreiben Sie kurz,
was Sie zu folgenden Begriffen wissen: a) Die Funde von Piltdown; b)
Archäopterix ...»
    Verena hatte schon zu schreiben
begonnen; Ruth konnte das Kratzen ihrer Goldfeder hören. Verena machte ihr in
letzter Zeit richtig angst. Ihre Augen schienen sie zu durchbohren. Aber Verena
war nicht wichtig. Nichts war wichtig außer die nächsten drei Stunden, von
denen sieben Minuten bereits verstrichen waren, hinter sich zu bringen.
    «Die Theorie des allometrischen
Wachstums zur Quantifizierung des Verhältnisses kleiner Tiere zu großen»,
begann Ruth zu schreiben, die sich entschlossen hatte, das Risiko einzugehen.
    Pilly, die schon dabei war,
niederzuschreiben, was sie über die Funde von Piltdown wußte, blickte kurz auf,
sah Ruth über ihr Blatt gebeugt und tauschte einen erleichterten Blick mit
Janet.
    Die Uhrzeiger rückten vor, die erste
halbe Stunde war um. Eine Frage beantwortet, dachte Ruth; noch vier ... Dann
also die Kurzfragen, weil es jetzt wieder anfing; es war sogar ziemlich
schlimm, aber sie würde sich dagegen wehren; sie würde tief durchatmen, und es
würde vergehen. Mein Gott, ich habe so hart gearbeitet, dachte sie, plötzlich
von Selbstmitleid überschwemmt. Das kann doch nicht alles vergeudet sein.
    Wieder beugte sie sich über ihr
Blatt und begann zu schreiben. Sie schrieb sehr schnell, weil sie unbedingt
etwas zu Papier bringen mußte, wofür man ihr eine Note geben konnte. Wenn sie
in dieser Prüfung versagte, würde sie ihren Magister nicht bekommen. Sie konnte
es nicht im Dezember noch einmal versuchen; sie nicht.
    Aber sie konnte nicht schnell genug
schreiben. Sie merkte, wie ihr der Schweiß aus allen Poren brach. Sie konnte
kaum noch etwas sehen vor Schwindel ... wieder holte sie tief Atem.
    Sie hob die Hand.
    Die Frau mit dem Knoten, die auf dem
Podium saß, sah auf. Sie sagte etwas zu dem Mann neben ihr und ging dann
langsam, entsetzlich langsam zwischen den Bänken hindurch.
    «Ja?»
    «Ich möchte gern zur Toilette.»
    «So bald schon?» Die Frau war
verstimmt. «Muß das sein?» Wieder sah sie Ruth an, sah den Schweiß auf ihrer
Stirn. «Also gut. Kommen Sie mit.»
    Alle sahen auf, als Ruth
hinausgeführt wurde. Es war ein umständliches Verfahren, niemand durfte allein
hinausgehen. Die Prüflinge wurden wie Gefängnisinsassen behandelt, man mußte
doch darauf achten, daß nicht etwa ein Spickzettel hinter der Toilette
versteckt war.
    Pilly biß sich auf die Lippe. Sie
und Sam tauschten besorgte Blicke. So früh hatte Ruth sonst nie hinaus gemußt.
    Dann hob auch Verena die Hand. Das
war nicht nur ungelegen; das war schon eine kleinere Krise. Kein Prüfling
konnte den Saal ohne Begleitung verlassen – andererseits mußte wenigstens eine Aufsichtsperson jederzeit im Saal
sein. Der grauhaarige Mann oben auf dem Podium runzelte die Stirn und drückte
auf einen Klingelknopf unter seinem Pult. Eine Sekretärin aus dem Prüfungsbüro
erschien an der Tür und wurde zu dem Pult gewiesen, an dem Verena, mit der
rechten Hand immer noch schreibend, den linken Arm in die Höhe hielt.
    »Ich möchte einen Moment hinaus»,
sagte Verena.
    Die Sekretärin nickte. Verena stand
auf, und die ungläubigen Blicke sämtlicher Prüflinge folgten ihr zur Tür. Es
war schwer zu glauben, daß Verena überhaupt körperliche Funktionen besaß.
    Der goldene Zeiger der Uhr rückte
vor. Drei Minuten – vier ...
    Dann kam Verena zurück. Sie sah wohl
und zufrieden aus und griff sofort wieder zu ihrem Füllfederhalter. Von

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