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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Ibbotson
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gefällig. Gleich, ob
sie siegte oder nicht, eine Karriere war ihr sicher.
    Langer, stürmischer Applaus folgte;
Blumen wurden auf das Podium gebracht; die Mitglieder der Jury machten sich
Notizen und nickten. Ruth mochte Daisy, ihr gefiel ihr Spiel, aber: Lieber
Gott, bitte laß sie nicht siegen!
    Und nun der Höhepunkt all der Wochen
der Aufregung und der Arbeit. Mit seinem leichten, federnden Schritt kam Heini
auf das Podium heraus und verbeugte sich. Ruth hatte sämtliche Blumengeschäfte
von Hampstead nach der perfekten Kamelie durchstöbert. Leonie hatte jede einzelne
Rüsche seines Hemdes mit Akribie gebügelt. Aber der Charme, das gewinnende
Lächeln hatten mit ihren Bemühungen nichts zu tun. Seine Bühnenpräsenz war
schon immer eine seiner starken Seiten gewesen, das wußte Ruth, und sie sah
hinauf zu der Loge, in der Mantella mit Jacques Fleury saß, dem Impresario, der
genau wie die Preisrichter den Schlüssel zu Himmel oder Hölle in der Hand
hielt. Mantella war wichtig, Fleury war Gott – er konnte Heini mit einem Wort
in die Staaten versetzen, ihn zu einem Virtuosen und Star machen.
    Berthold hob seinen Stab; das
Orchester setzte ein ... zart stimmten die Geigen das Thema an, das dann von
den Holzbläsern aufgenommen wurde ...
    Und alle lächelten. Mantella hatte
recht gehabt. Die Zuhörer waren für diese Musik bereit.
    «Wenn die Engel für Gott singen,
dann singen sie Bach, aber wenn sie zur Freude singen, dann singen sie Mozart,
und Gott lauscht heimlich.»
    Heini wartete in diesem Augenblick
der Stille, den sie immer geliebt hatte, den Blick auf die Tasten gerichtet.
Dann schlug er an, brachte das Thema so lebendig, so freudvoll ... und sie
atmete auf, weil er so herrlich spielte. All seine Nervosität war verflogen,
aufgegangen in dieser durchsichtigen, zarten, tröstlichen Musik, die vom Himmel
kommend, wenn es überhaupt einen Himmel gab, durch ihn hindurchströmte. Er
hatte dieses Wunder für sie vollbracht, als sie ihn zum erstenmal gehört
hatte, und sie würde seiner niemals müde werden, immer dafür dankbar sein. Ihre
ganze Vergangenheit war in dieser Musik enthalten – ihr ganzes Leben in der
Stadt, von der sie einst geglaubt hatte, sie würde für immer ihr Zuhause sein.
Kein Wunder, daß sie bestraft worden war, als sie diese Welt verlassen hatte.
    Die Musik trug sie über Traurigkeit
und Elend, Sorgen und körperliche Beschwerden hinaus – immer weiter empor. Ach,
könnte man nur dort oben bleiben; könnte man nur so leben, wie Musik klang;
würde doch die Musik niemals aufhören.
    Dann der langsame Satz. Sie war
jetzt alt genug für langsame Sätze, sie war uralt. Es mußte doch möglich sein,
einen Menschen zu lieben, der dem Klavier solchen Zauber zu entlocken vermochte.
Und es war möglich. Sie konnte Heini lieben, als Freund, als Bruder, als einen
Menschen, dessen kindischer Egoismus belanglos wurde angesichts dieser
Gottesgabe. Aber nicht als Mann, niemals, jetzt, da sie wußte ... Plötzlich
verschwammen das Orchester und Heini hinter einem Tränenschleier. Was für einen
grausamen Scherz hatte sich das Schicksal mit ihr erlaubt, sie auf ewig einen
Mann lieben zu lassen, dem sie nichts bedeutete.
    Der letzte Satz war Erleichterung,
denn kein Mensch konnte allzulange in den himmlischen Sphären des Andante
leben, und nun erklang auch das berühmte Rondo. Das mußte schon ein sehr
ungewöhnlicher Star gewesen sein, der eine solche Melodie gezwitschert hatte,
aber was spielte das für eine Rolle? Nur Mozart konnte so heiter und so schön
zugleich sein. Alle waren hingerissen, und Ziller nickte mit dem Kopf. Das
wollte viel sagen, denn Ziller mochte Heini nicht, aber er erkannte den
brillanten Musiker.
    Dann war es vorbei, und Heini wurde
mit Ovationen gefeiert. Die Leute trampelten und schrien; eine Gruppe
Schulmädchen warf Blumen auf das Podium, und sogar Jacques Fleury war in seiner
Loge aufgestanden.
    «Es tut mir leid, daß ich mich immer
darüber beschwert habe, daß er zu lange im Bad war», sagte Leonie und tupfte
sich die Augen. «Er war wirklich immer zu lange im Bad, aber es tut mir leid,
daß ich mich beklagt habe.»
    Heini mußte der Preisträger sein.
Daran konnte es eigentlich keinen Zweifel mehr geben.
    Aber jetzt kehrte Berthold aufs
Dirigentenpult zurück, und der lange Russe Selnikow setzte sich an den Flügel.
Er spielte gut, er spielte unglaublich gut, dank auch seiner hervorragenden
Ausbildung und der ungeheuren Seele, die eine russische Spezialität

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