Die Morgengabe
das.»
«Ja. Er schneidet alle Berichte aus,
die im National
Geographit über ihn
erscheinen. Außerdem ist Professor Somerville ein großer Segler vor dem Herrn –
er hat mal mit einem Winzlingsboot eine Trophäe gewonnen, obwohl ein
Riesensturm war und das Boot beinahe untergegangen wäre. So was gefällt meinem
Vater. Und ein toller Liebhaber ist er auch, wie die Medici. Ich glaube
allerdings nicht, daß er auch so viele Leute vergiftet.»
«Woher wissen deine
Eltern, daß er ein toller Liebhaber ist?»
Pilly seufzte. «Aus der Zeitung. Es
steht in den Klatschspalten. Eine Schauspielerin namens Tansy Mallet ist ihm
durch ganz Ägypten nachgelaufen, und jetzt hat er eine todschicke Französin.
Natürlich wollen alle mit auf seine Exkursionen. Warte nur, bis er wieder da
ist – seine Vorlesungen sind immer zum Brechen voll mit Leuten, die hier gar
nicht eingeschrieben sind. Sie zahlen der Uni zehn Pfund im Jahr, dann dürfen
sie jede Vorlesung besuchen, aber sie kommen nur zu seinen.» Sie biß in ihr
Brot. «Und Bowmont wollen natürlich auch alle sehen.»
«Was ist Bowmont?»
«Da wohnt Professor Somerville. Du
wirst es sehen, wenn du auf Exkursion gehst.»
«Ich gehe nicht auf Exkursion»,
entgegnete Ruth. «Aber was ist an Bowmont so besonders? Ich dachte, es sei nur
ein Haus ohne Zentralheizung.»
Pilly schüttelte den Kopf. «Das kann
nicht sein. Turner hat es gemalt.»
«Na und? Der hat auch vieles andere
gemalt. Kühe und Sonnenuntergänge und Schiffswracks.»
«Kann schon sein, aber trotzdem
wollen alle hin. Ach, Ruth, ich schaffe das nie. Diese Namen – jurassisch,
mesozoisch und ...»
«Du schaffst es», behauptete Ruth
entschlossen. «Wir machen Listen – eine Liste fürs Bad, eine Liste für die
Toilette ... Ihr habt sicher zu Hause viele Bäder, da kannst du viele Listen
haben. Und ich höre dich jeden Tag ab. Es sind doch bloß Namen! Wie bei Leuten,
die Cynthia oder George heißen.»
Es war schönes Wetter in jener ersten Woche in Thameside,
und Ruth fand alles beglückend: Dr. Feltons Seminare, die erste Probe des
Bach-Chors, dem sie beigetreten war und der die h-Moll-Messe einstudierte. Sie
lernte mit Pilly, sie freundete sich mit einem Doktoranden der germanistischen
Fakultät an und machte ihm klar, daß Rilke, wenn man seine Gedichte nur richtig
sprach, kein Verrückter war, sondern ein großer Lyriker – und sie hielt dem
Schaf die Treue.
Und doch konnte dieser Zustand des
Glück, so real er war, innerhalb eines Augenblicks durch eine Erinnerung an die
Vergangenheit zerstört werden. Eines Nachmittags ging sie auf dem Rückweg von
einem Seminar durch den Hof, als sie aus einem Fenster des Kunstbaus die Klänge
des Schubert-Quartetts in d-Moll hörte. Sie hielt an, um sich zu vergewissern,
daß sie richtig gehört hatte, daß dort tatsächlich die Zillers spielten, und es
war so: immer nahmen sie das Adagio mit dieser himmlischen Langsamkeit, die
mit Feierlichkeit nichts zu tun hatte. Und jetzt erhob sich die zweite Geige
über die anderen, um das Motiv zu wiederholen, und sie konnte Biberstein vor
sich sehen, mit seinen krausen, abstehenden Locken, das Kinn auf sein Instrument
gedrückt, während er Schubert – oder Gott – ins Auge sah.
Sie rannte über den Rasen, durch den
Torbogen, die Treppe hinauf ... Sie wußte natürlich schon, ehe sie die Tür zum
Aufenthaltsraum öffnete, daß es ausgeschlossen war. Die Zeit hatte sich nicht
umgekehrt, sie lief jetzt nicht über die Johannesgasse auf die Fenster des
Konservatoriums zu, hinter denen die Zillers probten. Doch ein paar Sekunden
lang glaubte ihr Körper, was ihr Hirn schon als Täuschung erkannt hatte. Dann
sah sie den Trichter des Grammophons und die Mitglieder des Musik-Kreises, die
um es herum saßen, und wußte, daß die Vergangenheit endgültig vorbei und
Biberstein tot war.
Am folgenden Tag teilte Verena Plackett ihren
Kommilitonen reizenderweise mit, daß Professor Somerville am Montag zurück sein
werde, um seine Vorlesung zu halten.
«Bist du
sicher?» fragte Sam.
«Aber natürlich», antwortete Verena.
«Er wird ja am Abend bei uns essen.»
14
«Lieber Himmel, Ruth, was hast du mit deinen Haaren
gemacht?» rief Leonie, als ihre Tochter am Montag morgen zum Frühstück
erschien.
«Ich habe mir einen Zopf
geflochten», antwortete Ruth mit Würde.
«Ja, das seh ich. Aber wie! Du hast
die Haare ja so stramm zurückgezogen, daß man meinen könnte, du wolltest dich
skalpieren.»
Ruth jedoch, deren Ziel die
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