Die Morgengabe
gänzliche
Unauffälligkeit war, erklärte, sie fühle sich sehr wohl, und fragte, ob sie
Hildas Regenmantel ausleihen dürfe, der schwarz war und männlich wirkte und
bessere Zeiten gesehen hatte. Nachdem sie den Kragen hochgeklappt und sich
eine Baskenmütze über den Kopf gezogen hatte, war sie sicher, daß es ihr
gelingen würde, sich Quin Somervilles Aufmerksamkeit zu entziehen; dann machte
sie sich, ohne auf ihre Mutter zu achten, die behauptete, sie sähe aus wie ein
Straßenmädchen in einem Experimentalfilm von Pabst, auf den Weg zur
Universität. Dort geriet sie von neuem unter Beschuß. Janet machte sie darauf
aufmerksam, daß es keinen Tropfen regnete, und Sam fragte bekümmert, ob das
jetzt ihre neue Frisur sei. Doch wenn schon Ruths Aussehen seltsam war, so war
es ihr Verhalten noch mehr.
«Ist was?» fragte Pilly, als Ruth
sich in den Hörsaal schlich wie die Bisamratte Chu Chundra in Kiplings Dschungelbuch, die sich niemals in die Mitte eines Zimmers wagte.
«Nein, nein», versicherte Ruth. «Das
heißt, mir ist irgendwie nicht ganz gut. Ich glaube, ich setze mich hinten hin,
damit ich jederzeit raus kann. Aber geh du ruhig nach vorn und such dir einen
guten Platz.»
Das war eine sinnlose Aufforderung.
Wo Ruth hinging, da ging auch Pilly hin, und wenig später gesellten sich Janet,
Sam und Huw zu ihnen.
«Es ist nicht so schlimm»,
versicherte Sam, der sich schweren Herzens damit abfand, daß er seinem Idol so
fern sein würde.»Man kann immer hören, was er sagt.»
Der Saal war voll bis auf den
letzten Platz. Nicht nur Studenten anderer Jahrgänge, sondern auch anderer
Disziplinen hatten sich eingefunden und dazu die Gasthörer, von denen Pilly
erzählt hatte: Hausfrauen, alte Damen, ein rotgesichtiger Colonel mit einem
Knebelbart.
«Ah, da kommt Verena», bemerkte
Janet. «Sollte sie sich diese schwungvollen Würste auf der Stirn zu Ehren des
Professors gedreht haben?»
In der Tat zeigte sich Verena im
Glanz einer neuen Frisur, auch wenn sie wie immer ein Schneiderkostüm und eine
hochgeschlossene Bluse strengen Schnitts anhatte. Als sie mit ihrer Krokodilledertasche
unter dem Arm die Stufen des Hörsaals herunterkam, sah sie sich mit einer
unerwarteten Schwierigkeit konfrontiert. Ihr Platz in der Mitte der ersten
Reihe war besetzt.
Der Angestellte, der angewiesen war,
Verena vor den Vorlesungen stets ihren Platz zu reservieren, hatte aufgemuckt.
Er hatte sich beim Quästor beschwert und gesagt, das gehöre nicht zu seinem
Aufgabengebiet, und der Quästor, der wahrscheinlich mit der Gewerkschaft unter
einer Decke steckte, hatte ihn unterstützt. Bisher hatte sich das nicht weiter
ausgewirkt, da inzwischen jedermann wußte, was ihr zustand; heute jedoch, bei
dem Zustrom von Hörern, war die ganze erste Reihe besetzt.
Jeder andere hätte sich davon
vielleicht abschrecken lassen; nicht Verena Plackett, Tochter ihrer Mutter.
«Entschuldigung», sagte sie, hielt
ihre edle Aktentasche hoch und drängte sich an den Sitzenden vorbei bis zur
Mitte der Reihe direkt vor dem Podium mit dem Rednerpult und der Wasserkaraffe.
Hier saß sie immer, hier beabsichtigte sie auch heute zu sitzen.
Ihr Hinterteil anmutig gelüpft,
wartete Verena, um sich auf dem ihr angestammten Platz niederzulassen – und
wartete nicht vergeblich. Solcherart war die Autorität, die überlegene Klasse,
die selbst von ihrem Gesäß ausging, daß die Frau rechts von ihr näher zu ihrem
Nachbar rückte, der Student links sich mit nur einem kleinen Murren an seinen
Freund drängte – und mit einem höflichen «Danke sehr» setzte sich Verena,
öffnete die Aktentasche, nahm den Block und den Füller mit der Goldfeder heraus
und war bereit.
Quin betrat den Vorlesungssaal,
legte ein einzelnes Blatt Papier auf das Pult, schob die Wasserkaraffe weg,
blickte auf, um «Guten Morgen» zu sagen – und entdeckte augenblicklich Ruth,
die so tief wie möglich zusammengekrümmt in der letzten Reihe saß. Sie war
teilweise verdeckt von einem breitschultrigen jungen Mann in der Reihe vor ihr,
aber das herzförmige Gesicht, die großen umschatteten Augen waren deutlich zu
erkennen, und nicht minder eine nackte Fläche dort, wo ihr Haar nicht war.
Einen Moment lang glaubte er, sie habe es abgeschnitten, und spürte ein
Aussetzen seines Herzschlags, als hätte sein Vegetativum die Absicht gehabt,
eine Protestmeldung zu senden, und sich dann eines anderen besonnen, einerseits
weil es ihn nichts anging, andererseits weil sie es gar nicht
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