Die Morgengabe
Professor Somervilles Verdienste, seine Klugheit
und sein Wissen, die großartigen Dinge, die er für seine Studenten getan hatte.
«Ich würde alles darum geben, an
einer seiner Exkursionen teilnehmen zu können», sagte Sam, «aber ich habe
überhaupt keine Chance; nicht mal, wenn ich eine Eins bekomme. Die Warteliste
ist immer endlos.»
Selbst Janet, die eine so niedrige
Meinung vom männlichen Geschlecht hatte und ihren unglücklichen Verehrern
weiterhin die Köpfe abbiß wie eine dieser exotischen Spinnen im Naturhistorischen
Museum, wußte nur Gutes von ihm zu berichten.
«Seine Vorlesungen sind wirklich
fabelhaft – weißt du, er zeigt einem eine ganz neue Welt. Und er hat überhaupt
keine Allüren. Ich sag dir, ich kriege eine Riesenwut, wenn ich Verena reden
höre, als sei er ihr Eigentum. Dabei kennt sie ihn noch nicht mal.»
Am meisten über Quin hörte Ruth
jedoch von Pilly. Priscilla mochte unfähig sein, das Konzept der radialen
Symmetrie bei der Qualle zu begreifen, aber sie sah und erfaßte die Dinge mit
dem Herzen. Und jetzt nahm sie wahr, daß Ruth, ihre Freundin, mittags nicht
genug zu essen hatte.
Das stimmte. Ruth hatte ihrer Mutter
erzählt, das Mittagessen in der Mensa sei kostenlos. Morgens stieg sie einfach
drei Haltestellen vor ihrem Ziel aus der U-Bahn und kaufte sich mit den zwei
Pence, die sie dadurch sparte, ein Brötchen, das sie dann mittags am Fluß aß.
Sie fand dieses Arrangement absolut zufriedenstellend, Pilly jedoch war anderer
Meinung, und an Ruths drittem Tag in Thameside fragte sie, ob es Ruth recht
wäre, wenn sie sich in Zukunft auch etwas von zu Hause mitbrächte und mit ihr
zusammen am Fluß zu Mittag äße.
«Aber gehst du denn nicht lieber in
die Mensa?»
«Nein. Das Essen dort bekommt mir
nicht», schwindelte Pilly.
Zu Hause beriet sie sich mit ihrer
Mutter. Die Herstellung von Pillen hatten Mr. Yarrowby zum reichen Mann
gemacht. Priscilla wurde morgens in einem Rolls-Royce zur Universität gefahren,
der sie zwei Straßen entfernt abzusetzen pflegte, weil ihr Reichtum ihr
peinlich war; doch ihre Mutter war eine handfeste Frau vom Land. Mrs. Yarrowby
war zwar niemals von einem Taubenschwarm überfallen worden, aber sie und Leonie
waren sich im Grunde sehr ähnlich.
«Ach, du lieber Himmel!» rief Pilly,
als sie am folgenden Tag ihr Mittagbrot auspackte. «Das kann ich unmöglich
alles aufessen – und wenn ich was übriglasse, ist meine Mutter zu Tode
gekränkt.»
In dieser Notlage mußte Ruth ihr
einfach zu Hilfe kommen. Leonies gekränktes Gesicht, wenn sie sich bei Tisch
nicht ein zweites Mal genommen hatte, gehörte zu ihren Kindheitserinnerungen.
Sie teilte sich mit Pilly die Fleischpastetchen, die harten Eier, den
Gewürzkuchen, die Weintrauben ... und selbst dann waren noch Brocken für die
gefräßigen Enten übrig.
«Ach, Pilly, du hast ja keine
Ahnung, wie herrlich es ist, wieder einmal Enten füttern zu können! Jetzt fühle
ich mich wie ein richtiger, echter Mensch und nicht wie ein Flüchtling.»
«Du bist immer ein richtiger, echter
Mensch», erklärte Pilly treu. «Du bist der richtigste und echteste Mensch, den
ich kenne.»
Und während sie an die Brüstung
gelehnt am Fluß saßen, hörte Ruth, wie sehr Pilly vor dem Beginn des
Paläontologiekurses graute.
«Das schaffe ich niemals», sagte sie
unglücklich. «Ich kann ja nicht mal Pleistozän und Plastilin
auseinanderhalten.»
«Klar kannst du das ... Aber warum
mußt du den Kurs überhaupt nehmen, Pilly? Hättest du denn nicht etwas anderes
wählen können?»
Pilly machte ein deprimiertes
Gesicht und warf noch ein Stück Pastete ins Wasser. «Es ist wegen Professor
Somerville.»
«Wieso?» fragte Ruth erstaunt. «Was
hat das mit ihm zu tun?»
«Mein Vater ist der Meinung, er sei
der vollkommene Renaissance-Mensch», antwortete Pilly. «Du weißt schon, ein
Mensch, der alle seine Fähigkeiten ausgebildet hat. Mein Vater hat ihn vor
ungefähr drei Jahren mal in der Wochenschau gesehen. Da kam er gerade mit
diesem Neanderthalerschädel aus Java zurück. Und später hat er ihn noch mal
gesehen, als er auf einem Yak durch Nepal ritt. Oder vielleicht war es auch ein
Maultier. Weißt du, mein Vater mußte mit vierzehn von der Schule und in die
Fabrik. Er konnte nie studieren und sich bilden. Deswegen muß ich mich jetzt
auf der Uni herumquälen, obwohl ich ihm gesagt habe, daß ich zu dumm dazu bin.
Und Professor Somerville ist ein Mensch, wie er gern einer gewesen wäre.»
«Ach, so ist
Weitere Kostenlose Bücher