Die Muse des Mörders (German Edition)
schrie er. Wie es für Sadisten üblich war, war er nicht sehr hart im Nehmen.
»Der Dolchstoßmörder ist hier!«, brüllte Lucy in den Hörer, fügte die Adresse hinzu und sah, wie der Verrückte erschrocken aufblickte. Tränen rannen über sein Gesicht. Er sprang auf, umfasste ihr Handgelenk mit der Rechten, rang ihr mit der Linken das Handy aus den Fingern und schleuderte es zu Boden. Die hintere Klappe sprang ab und der Akku löste sich aus dem Gerät.
Schwer atmend starrte der Mann auf das zerstörte Mobiltelefon. Sie rechnete mit einem neuerlichen Angriff, doch es kam keiner. Stattdessen taumelte er gegen die Wand und schloss die Augen. Seine Entschlossenheit war von einem Moment auf den anderen verschwunden und er wirkte müde und schwach. Lucy musterte ihn, dann ging sie vorsichtig in die Knie und langte nach dem Messer.
»Wie lange wird es dauern?«
Sie hielt in der Bewegung inne und sah auf. Seine Augen waren noch immer geschlossen, die Lider zuckten nervös.
»Wie lange wird es dauern, bis sie hier sind?«
Sie schluckte, nahm das Messer vom Boden und richtete sich langsam auf.
»Die Direktion am Schottenring ist ganz in der Nähe. Keine fünf Minuten, wenn sie richtig Gas geben.«
Der Junge lachte, aber es war kein echtes Lachen, sondern ein Laut voller Bitterkeit und Resignation. Er griff in seine Innentasche und sie richtete die Klinge auf ihn. Erst jetzt öffnete er die Augen, doch er war nicht beeindruckt. Er schüttelte den Kopf, zog langsam ein Holzkästchen hervor und streckte es ihr entgegen.
»Gib das Madeleine. Bitte. Wenn du es ihr nicht gibst, bedeutet das meinen Tod, dann hast du mein Leben auf dem Gewissen.«
Zögernd nahm sie das Kästchen entgegen. Einen Augenblick lang rührte sich keiner von ihnen, dann zog der Angreifer ihr blitzschnell das Messer aus der Hand, rannte zur Tür, riss sie auf und verschwand in der Dunkelheit. Es ging alles so schnell, dass Lucy keine Chance hatte, zu reagieren. Fassungslos starrte sie hinaus in die Nacht und hörte, wie die Schritte des Mannes verklangen. Als sie die Schockstarre überwunden hatte, raste sie zur Tür und schlug sie zu.
Alles war so still und friedlich, dass ihr die Geschehnisse der letzten Minuten vorkamen wie ein Albtraum. Nur das Holzkästchen in ihrer Hand und das zerschmetterte Handy zeugten von der Begegnung mit dem Killer.
37.
Lucy nahm zögernd den Hörer ab und legte ihn sofort wieder auf. Sie sah auf das Kästchen, das vor ihr auf dem Telefontisch stand, und blickte dann auf die Uhr. Eine gute halbe Stunde war der Besuch des Verrückten nun schon her, doch sie war immer noch völlig fertig. Erst nach und nach begriff sie, dass sie vorhin vielleicht gerade noch dem Tod entkommen war.
Zum Glück war der Wahnsinnige auf den Trick mit dem Handy hereingefallen. In Wahrheit war ihr Akku seit Tagen leer. Sie brauchte das Telefon nur selten und versäumte oft wochenlang, es wieder aufzuladen. Gar nicht auszudenken, wenn der Mann bemerkt hätte, dass das Display während ihres »Anrufs« dunkel geblieben war.
Ihr Exfreund war auch so ein Gestörter gewesen, der erst richtig wütend geworden war, wenn jemand versucht hatte, ihn für dumm zu verkaufen. Dieser Typ hätte sicher nicht anders reagiert.
Sie wischte sich über die Stirn und nahm abermals den Hörer ab. Sie hatte wenig Lust, ausgerechnet Georg Scuderi anzurufen, erst recht nach seiner Show auf der Beerdigung, von der ihr Madeleine erzählt hatte. Doch außer ihm gab es keinen, der infrage kam.
Lucy blätterte schnell durch Madeleines in Leder gebundenes Telefonregister und wählte die Handynummer des Theaterautors. Sie versuchte, sich unter Kontrolle zu bringen, doch ihre Atemstöße zitterten wie vorhin die des Verrückten. Als ob er sie angesteckt hätte.
Am anderen Ende der Leitung wurde abgehoben und eine hohe Frauenstimme meldete sich.
»Hallo? Hier Jenny Love am Apparat.«
Lucy verzog angewidert das Gesicht und sah irritiert auf den Hörer, aus dem das Lachen zweier deutlich angetrunkener Personen drang. Eine der Stimmen erkannte sie sofort.
»Hier ist Lucy Marburger. Könnte ich bitte mit Georg sprechen?«
Etwas, das Bettwäsche sein mochte, raschelte in der Leitung, dann hatte sie Madeleines Bruder dran.
»Lucy, meine Liebe.« Als wären sie alte Freunde. Sie schluckte die Wut hinunter, die der bloße Klang seiner Worte in ihr erzeugte.
»Könntest du bitte vorbeikommen?«
»Warum kommst du
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