Die Muse des Mörders (German Edition)
sie nicht weniger vorsichtig sein müssen. Während der letzten Jahre hatte sie sich einlullen lassen von der trügerischen Überzeugung, dass ihr hier in der Stadtvilla nichts geschehen konnte. Unvorsichtig war sie geworden, fast schon leichtsinnig.
Während sie die Innentaschen durchwühlte, blickte sie immer wieder zur Tür. Es war vielleicht eine Minute her, dass es zum ersten Mal geklingelt hatte. Sie hatte mit ihrem Laptop am Küchentisch gesessen, vertieft in ein Chatgespräch über die Geschehnisse in der Stadt. Fasziniert hatte sie die Diskussion verfolgt, in der es darum ging, dass der Dolchstoßmörder als eine Art Todesengel das Ende der Welt ankündigte. Die Giftmorde und seine Untaten seien die ersten zwei der sieben zu brechenden Siegel. Einer der Chatter war sogar überzeugt gewesen, der Killer mit dem Dolch sei eine Inkarnation Cthulhus, eines der Großen Alten, der aus seinem Grab im Pazifik gestiegen war, um unter den verkommenen Menschen des Einundzwanzigsten Jahrhunderts zu wüten.
Seit ihrer Jugend war Lucy eine Verehrerin des amerikanischen Schriftstellers H. P. Lovecrafts. Der Teil von ihr, der immer noch ein vierzehnjähriges Mädchen war, glaubte mit tiefer Überzeugung an die Existenz des Chaos und des Horrors, die einen jeden Augenblick überfallen konnten. Sie glaubte auch daran, dass es nichts Gutes bedeuten konnte, wenn es mitten in der Nacht an der Tür klingelte, kurz nachdem groß in der Zeitung gestanden hatte, dass ihre Chefin ein Fan des Dolchstoßmörders war.
Sie fand das Spray, zog es aus der Tasche und versuchte, sich selbst zu beruhigen. Der Wahnsinnige, das Ungeheuer oder was auch immer er war, würde schon nicht gleich auf einen Kaffee vorbeikommen. Wer war dann da draußen? Seit sie hier lebte, hatte es noch nie nachts geklingelt. Keiner von Madeleines Bekannten, nicht einmal ihr verrückter Bruder, war je nach Mitternacht hier aufgetaucht. Sie war halb zu Tode erschrocken in die Diele gehastet, doch dann hatte sie nicht gewagt, an die Sprechanlage zu gehen, geschweige denn die Tür zu öffnen. Im Obergeschoß des Hauses blieb alles still. Madeleine hatte nach den aufwühlenden Ereignissen eine Schlaftablette genommen. Ansonsten wäre sie wahrscheinlich selbst an die Tür gegangen, um den Störenfried zur Rede zu stellen, und ihm dabei im schlimmsten Fall direkt ins Messer gelaufen.
Jetzt läutete es Sturm. Sieben, acht Mal hintereinander wurde die Klingel betätigt. Lucy pirschte sich an und presste sich an die Wand neben der Tür, obwohl diese aus massivem Holz und eigentlich sicher war. Mit bebenden Fingern nahm sie den Hörer der Gegensprechanlage ab.
»Wer ist da?«
»Madeleine Scuderi?«, ertönte eine atemlose Stimme, die durch das Rauschen der Sprechanlage verzerrt war.
»Frau Scuderi schläft schon. Haben Sie eine Ahnung, wie spät es ist?« Sie versuchte, tough zu klingen.
Ein verärgertes Schnaufen drang durch die Leitung, dann probierte der Mann draußen hörbar, den Türknopf zu drehen. Lucys Befürchtung bestätigte sich. Es war ihm egal, ob sie damit einverstanden war, dass er eintrat.
»Hören Sie sofort auf damit oder ich rufe die Polizei!«
»Nein!« Seine Stimme nahm einen panischen Unterton an, der ihn nur noch verrückter wirken ließ. »Nein, tun Sie das nicht.«
»Sagen Sie mir, wer Sie sind und was Sie wollen.«
»Öffnen Sie bitte einfach die Tür, Lucy.«
Woher kannte er ihren Namen? Ihr Herz hämmerte so laut, dass es die Stimme des Fremden beinahe übertönte. Sie musste sich etwas einfallen lassen.
»Reg dich nicht auf, Igor. Ich wimmle den Kerl schon ab.« Ihr jämmerlicher Versuch, so zu tun, als gäbe es einen Mann im Haus, wurde mit einem wütenden Faustschlag gegen die Tür beantwortet.
»Verdammt noch mal, spielen Sie keine Spielchen mit mir!« Im letzten Drittel des Satzes überschlug sich seine Stimme. Da stimmte etwas nicht. Diesen Mörder, der in Wien sein Unwesen trieb, stellte sie sich eiskalt vor, abgebrüht und bei allem, was er tat, völlig ruhig. Der Kerl da draußen war nicht ruhig. Sogar, wenn er nicht sprach, hörte sie seine unruhigen Atemzüge durch die Leitung.
»Lucy, ich weiß, dass Madeleine eine harte Zeit hinter sich hat, und ich würde hier nicht mitten in der Nacht ankommen, wenn es nicht wichtig wäre.« Nun klang er weinerlich. Sie schluckte hart und packte den Hörer fester, damit er ihr nicht aus der verschwitzten Hand rutschte.
»Es hängt so viel davon ab, dass Sie
Weitere Kostenlose Bücher