Die Muse des Mörders (German Edition)
stünde nun ein anderer Mann vor ihr, dann fiel ihr Blick auf den Dolch in seiner Hand. »Du bist …! Bist du …?«
Er nickte und sah, wie endgültig Panik in ihr aufwallte.
»Bitte, lass mich am Leben! Ich tue auch alles, was du willst.« Sie versuchte, noch weiter zurückzuweichen, während der Mann in der Wanne verzweifelt planschte. Wasser spritzte auf den Fliesenboden.
Er schüttelte den Kopf.
»Geht nicht. Du hast mein Gesicht gesehen.«
Sie starrte ihn einen Moment lang an, dann begann sie zu weinen und tat etwas ganz und gar Unerwartetes. Sie warf sich ihm an die Brust und packte mit beiden Händen den Kragen seines Mantels.
»Bitte!«
Er legte den freien Arm um sie und versuchte, sie zu beruhigen, doch es lag wenig Beruhigendes in seinen Worten.
»Hab keine Angst. Ich werde es schnell machen. Es wird gar nicht wehtun.« Er spürte ihre nassen Tränen an seinem Hals. »Tut mir leid.« Er meinte es so. Trotzdem gab es kein Zurück und er merkte, dass sie es begriffen hatte. Einen Moment ließ er sie noch weinen, sie vielleicht ihren Frieden machen, dann ließ er sie los und schob sie ein Stück fort.
44.
Eigentlich hatte Madeleine auch an Tag zwei nach dem nächtlichen Überfall keine große Lust, das Haus zu verlassen. Sie hatte das Gefühl, dass mit dem düsteren Geschenk des Mörders etwas von ihm in ihr Leben eingedrungen war, und was immer es war, machte sie regelrecht krank. Sie wusste aber, dass sie sich nicht bis ans Ende ihrer Tage zu Hause verschanzen und darauf hoffen konnte, dass sich alles von selbst klärte oder wieder rückgängig machte. Also ließ sie sich am Samstagmittag von Lucy zu Judith Reinhardt, der Gattin des Polizeipräsidenten, fahren. Schon vor Wochen, als Paul noch am Leben gewesen war, hatte sie sich mit ihr zum Essen verabredet.
Die Reinhardts wohnten am Rand von Wien, in einem freistehenden Haus in Neustift am Walde. Hinter ihrem Garten erstreckten sich Weinberge, die einen Eindruck von Freiheit und Friedlichkeit vermittelten, der im Moment nicht zu Madeleine durchdringen konnte. Auch als Judith Reinhardt ihr die Tür öffnete und sie mit einem Lächeln in Empfang nahm, besserte sich ihre Stimmung nicht. Judith war eine attraktive Frau in ihren Fünfzigern mit strohblonden Haaren und einem breiten Mund. Im Gegensatz zu ihrem Mann Nicolas, der die Verbissenheit eines kleinen Kampfhundes an sich hatte, strahlte sie eine Redseligkeit und Fröhlichkeit aus, die Madeleine an ihr schätzte. Gespräche mit ihr waren zwar belanglos, aber unterhaltsam und manchmal sogar inspirierend. Sie war tiefer in die Wiener Gesellschaft verwoben als Madeleine und amüsierte sie bei jedem Treffen mit neuen Klatschgeschichten. Heute allerdings wollte Madeleine am liebsten nichts davon hören. Zu viele Skandale und Schauergeschichten hatte ihr eigenes Leben ihr zuletzt geboten.
Sie ließ sich von Judith in den hellen Wintergarten der Familie führen, von wo aus die Sicht auf die Weinberge beinahe ungetrübt war. Einzig die weißen Fensterrahmen durchschnitten die Landschaft an wenigen Stellen. Madeleine nahm am runden Esstisch Platz und stieß mit dem Schuh gegen ein Spielzeugauto, das gegen eine Topfpflanze neben der Tür rollte und auf die Seite kippte.
»Oh, das tut mir leid«, sagte Judith. »Ich komme bei Basti mit dem Aufräumen gar nicht mehr hinterher.«
Mit sechsundvierzig war Judith noch einmal Mutter geworden und so hatte sie jetzt einen achtjährigen Jungen im Haus, der für andere Frauen ihres Alters schon ein Enkel gewesen wäre. Madeleine bemitleidete sie mehr, als sie sie beneidete, aber Judith wirkte nicht überfordert. Sie schien ihre Rolle als Mutter genauso zu genießen wie die als Gastgeberin. Im Gegensatz zu Madeleine beschäftigte Judith kein Hausmädchen, weswegen sie ihnen beiden selbst Getränke servierte.
»Ich habe das Wasser mit Heilsteinen remineralisiert. So …« Judith stutzte. »Madeleine? Hören Sie mir überhaupt zu?«
Madeleine blickte auf und merkte, dass sie sich schon wieder in Gedanken verloren hatte.
»Tut mir leid.« Sie seufzte und nahm ihr Glas in die Hand. Judith konnte gar nicht entgehen, wie ihre Finger zitterten.
Die Blondine musterte Madeleine besorgt.
»Ist alles in Ordnung? Sie sehen heute ziemlich blass aus. Als hätten Sie ein Gespenst gesehen.« Judith lachte hell und ahnte vermutlich gar nicht, wie recht sie hatte.
Madeleine zögerte. Sollte sie ihr von dem verstörenden
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