Die Muse des Mörders (German Edition)
Minuten allein mit den Opfern, bevor diese abtransportiert wurden. Er brauchte diese Zeit, um sich in den Täter hineinzufühlen. Nach und nach war er ganz gut darin geworden, in die Psyche von Mördern und Vergewaltigern einzudringen. Er lernte, worauf es ihnen ankam, und versuchte herauszufinden, was sie dachten und fühlten. Anfangs hatten ihn die gestörten Gedanken der Täter wahnsinnig mitgenommen und er war sich zeitweise selbst wie ein Perverser vorgekommen. Mittlerweile war er so vernarrt in seine Arbeit, dass er gar nicht mehr aufhören konnte zu bohren, bis er das Innenleben des Verbrechers in allen Details kannte. Dieser Ehrgeiz hatte ihn bislang immer irgendwann ans Ziel geführt.
Vorsichtig, um nicht mit der Blutlache in Berührung zu kommen, hockte er sich zu der jungen Frau im Lackkostüm und betrachtete sie zuerst durch seine geschulten Polizistenaugen. Sie trug eine Perücke, die ihr ein Stück vom Kopf gerutscht war und etwas dunkleren blonden Haaren Platz gemacht hatte. Nicht weiter ungewöhnlich in diesem Milieu. Viele Frauen glaubten, so ihre Anonymität zu wahren. Was Dominiks Aufmerksamkeit stattdessen sofort auf sich zog, war der dünne dunkle Rand an ihrem schlanken Hals. Eine Verfärbung, wie sie von einer Modeschmuckkette oder einem billigen Halsband verursacht werden konnte. Dominiks Herzschlag beschleunigte sich, denn er spürte, dass er auf dem richtigen Weg war. Schmuck war die Verbindung zwischen all den Toten, soviel stand inzwischen fest. Jedoch waren bisher nur wertvolle Stücke gestohlen worden, Unikate, hergestellt aus teuren Materialien. Um einen Nachahmungstäter, der keinen Wert auf die Qualität des Schmucks legte, konnte es sich nicht handeln, da die Sammelleidenschaft des Mörders der Presse gegenüber nicht erwähnt worden war. Das alles passte nicht zusammen. Bisher hatte der Mörder nur die kostbarsten Juwelen gestohlen und jetzt sollte er wegen einer billigen Modeschmuckkette zwei Menschen töten?
Dominik erhob sich und betrachtete den Mann in der Badewanne, der eingerollt in die Folie aussah wie ein Mikrowellengericht. Er war ertränkt und nicht erstochen worden, was wohl bedeutete, dass es nicht um ihn, sondern um das Mädchen gegangen war. Dass er nur zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war, ein lästiger Zeuge, aber nicht mehr.
Ein weiteres Mal ließ Dominik seinen Polizistenblick durch den Raum wandern, bevor er sich nach draußen begab und den Flur hinunter bis zur Treppe ging. Nun war es soweit. Er musste in die Rolle des Mörders schlüpfen. Den Weg gehen, den er gegangen war. Sehen, was er gesehen hatte. Mit geschlossenen Augen atmete er durch, konzentrierte sich auf die wenigen Dinge, die er über den Täter und seine Taten wusste, dann lief er los. Was fühlte ein Mann, der kurz davorstand, inmitten von potenziellen Zeugen einen Mord zu begehen? Vorfreude und Gier. Grenzenlose Gier, die ihn leichtsinnig machte und ihm ein Gefühl von Unbesiegbarkeit gab, das ihn Fehler begehen ließ. Dominik ging weiter und ließ seinen Blick von links nach rechts wandern. Er konnte die Geräusche, die die hohen Absätze des devoten Mädchens auf dem glatten Boden hinterlassen hatten, fast hören. Konnte die Lust spüren, die in diesen Räumen zu Hause war. Er kam an einer Tür vorbei, die weit offen stand und in einen spärlich eingerichteten Kellerraum führte. Der Mörder musste ebenfalls an den vier Themenzimmern vorbeigekommen sein, ehe er den letzten Raum erreicht hatte. Nur, dass die Zimmer bei seinem Besuch alle besetzt gewesen waren. Sicherlich hatte er Angst verspürt. Angst davor, entdeckt zu werden, bevor er sein Werk zu Ende bringen konnte. Bevor er an sich reißen konnte, was … Ja, was? Dominik blieb an der Tür zu dem kleinen Badezimmer stehen. Was wollte dieser Mistkerl in seine Gewalt bringen? Ging es ihm wirklich um Reichtum oder darum, in die Intimsphäre von Fremden einzudringen? Ginge es ihm um das Private, dann hätte er nicht nur einmal in der Wohnung eines Opfers gemordet. Für ihn hatte anscheinend ausschließlich der Schmuck eine Bedeutung.
Er trat ein und schloss die Badezimmertür hinter sich. Der Killer musste gewusst haben, dass die junge Frau eine Kette bei sich trug. Vielleicht hatte er sie schon vorher getroffen. War es möglich, dass er sich gar nicht mit Schmuck auskannte? Dass er eine Kette aus lackiertem Plastik für ein Designerstück aus Gold gehalten hatte? Das passte nicht ins Profil. Wie sie mittlerweile
Weitere Kostenlose Bücher