Die Muse des Mörders (German Edition)
vier Jahren einen Kopfumfang von fünfunddreißig Zentimetern gehabt und Simon sogar stolze achtunddreißig Zentimeter. Hannah hatte ihn vom ersten Tag an einen Dickschädel genannt, ein Kosename, der sich als passend erwiesen hatte. Dieser Kopf hier maß höchstens neunundzwanzig Zentimeter. Alle Anwesenden hofften, dass es sich um eine einzelne Totgeburt oder späte Abtreibung handelte. Leider war es wahrscheinlicher, dass die Suchhunde unter der Grasdecke noch mehr Säuglingsleichen finden würden. Dominik dachte an die datierten Fläschchen voller dunkelroter Flüssigkeit und fragte sich automatisch, wie viel Blut ein Neugeborenes in sich trug. Sogleich wurde ihm flau im Magen und er tastete die Zigarettenschachtel in seiner Jackentasche ab. Sie war leer.
Leise fluchend entfernte er sich einige Schritte und be-trachtete das Haus, in dem sich Vecina versteckt gehalten hatte. Er wollte sich nicht ausmalen, welche Rituale hier stattgefunden hatten, doch seine Fantasie setzte die Bilder selbstständig zusammen. Schon oft hatte er von schwarzen Messen und Riten gehört, bei denen Blutopfer an der Tagesordnung waren. Allerdings beschränkten sich diese, soweit er wusste, normalerweise auf Blut von Sektenmitgliedern oder Tieren. Für Vecina war so etwas vermutlich Kinderkram.
Dominik rieb sich die Schläfen. Er war erschöpft. Die Hexe war endlich hinter Schloss und Riegel. Es wurde Zeit, zu gehen. Seine Arbeit war getan, die der Spurensicherung würde hingegen noch bis in die späten Morgenstunden andauern. So lange konnte er nicht warten. Hannah hatte mehrmals vergeblich versucht, ihn auf seinem Handy zu erreichen, und er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie nicht schlafen gehen würde, bevor er sicher daheim angekommen war.
Dominik wollte einfach nur noch nach Hause, aber das holprige Kopfsteinpflaster und die engen Kurven hinderten ihn daran, schneller zu fahren, und so tuckerte er in der vorgeschriebenen Geschwindigkeit den Berg hinunter. Um sich abzulenken, versuchte er die Aussicht über die Stadt zu genießen, doch immer wieder drängten sich ihm die grausamen Bilder auf. Die Suchhunde hatten noch weitere Skelette gefunden und Dominik machte sich Vorwürfe. Vielleicht hätte er den Tod der Kinder verhindern können, wenn er Margaretha früher gefunden und sie und ihre Bande eher zu einem Geständnis gebracht hätte. Er fühlte sich schuldig, obwohl ihm sein Verstand sagte, dass das Unsinn war. Einige der Babys waren, soweit die Spurensicherung das jetzt schon beurteilen konnte, viel länger tot, als er an der Giftaffäre arbeitete.
Entschlossen schaltete er das Radio ein und Michael Jackson schmetterte ihm Billie Jean entgegen. Obwohl er kein Fan des verstorbenen Popstars war, holte ihn die Musik in die Realität zurück und Dominik fühlte sich langsam besser. Er bog auf die Himmelstraße ab und fuhr in Richtung Brigittenau. Je weiter er den Forst hinter sich ließ, desto entfernter schienen auch die Ereignisse der Nacht.
Hannah erwartete ihn bereits und empfing ihn im Bademantel, mit einer Mischung aus Sorge und Vorwurf in den Augen. Ihre langen dunklen Haare fielen ihr in leichten Wellen über die Schultern und sie strich sie beiläufig zurück, bevor sie ihn umarmte. Einen Moment verharrte sie in dieser Position, dann streckte sie sich, um an sein Ohr heranzukommen.
»Möchtest du darüber sprechen?«, fragte sie.
Ein Hauch ihres Parfüms wehte zu ihm herüber. Flieder. Dominik wurde schlecht und er löste sich schnell aus ihrer Umarmung.
»Tut mir leid, ich bin müde«, sagte er und wandte sich ab. Er wusste, welche Verletzung er Hannah damit zufügte, doch es war nicht zu ändern. Auch wenn er nicht abweisend sein wollte, konnte er sie nicht mit seinen Erlebnissen konfrontieren.
Schweigend folgte Hannah ihm ins Schlafzimmer und sah zu, wie er sich das verstaubte Hemd auszog. Er hasste es, wenn sie ihn so anstarrte und jeden seiner Handgriffe beobachtete. Manchmal hatte er das Gefühl, dass sie so bis in seine Gedanken und seine Seele vordringen und all seine Geheimnisse offenlegen konnte.
Sorgfältig, um nichts aus seinen Taschen zu verlieren, faltete er seine Hose und legte sie auf dem Boden ab. Hannahs braune Augen ruhten noch immer auf ihm, als er sich ins Bett legte. Sie schwieg und er fragte sich, wie stark ihr Durchhaltevermögen sein würde. Erst als er die Augen schloss und ihr den Rücken zukehrte, hörte er, wie sie das Zimmer verließ.
6.
Der Morgen
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