Die Muse des Mörders (German Edition)
T-Shirt, das sie sich vor den Körper hielt. Hinter ihr stand der Junge, mit dem sie sich den Abend über vergnügt hatte. Er trug nur Shorts und hatte die Arme um Jasmins Hüften geschlungen.
»Was machst du denn hier unten?«
»Ich wollte … ich dachte … Es ist schon spät und …« Marie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg und suchte nach einer Erklärung.
Jasmin winkte ab und lächelte.
»Ich zieh mir nur schnell etwas an, dann bring ich dich zu einem Taxi.«
Die Haustür öffnete sich quietschend. Marie verharrte und lauschte. Es war nichts zu hören. Entweder schlief ihr Vater oder er war in seiner Werkstatt. Trotzdem ging sie lieber auf Nummer sicher und zog die Schuhe aus, um sich in ihr Zimmer zu schleichen. Ihre Tür war nur angelehnt, obwohl sie sich erinnerte, sie vor dem Gehen verschlossen zu haben. Schnell trat sie ein und sperrte hinter sich ab, bevor sie Licht machte. Er durfte ihn nicht gefunden haben!
Marie ließ sich auf die Knie fallen und tastete unter dem Bett nach ihrem Koffer. Er war noch da. Sie atmete auf. Jetzt fehlte nur noch eine Nachricht von Oliver.
Während sie wartete, dass der Laptop hochfuhr, fiel ihr Blick erneut unters Bett. Selbst wenn ihr Vater den Koffer entdeckte, er würde ihr nie zutrauen, dass sie fortgehen wollte. Für ihn war sie noch immer sein kleines Mädchen, unfähig auf eigenen Beinen zu stehen und zu jung für die Liebe. Möglicherweise war sie naiv gewesen, als sie die Beziehung mit Oliver begonnen und geglaubt hatte, ihr Vater würde sich damit arrangieren. Allenfalls hatte sie Enttäuschung, niemals jedoch diese Wut erwartet, mit der er reagiert hatte. Wenn es nach ihm ging, dann sollte sie noch eine Weile Kind bleiben. Er hatte ihr jeden Kontakt zu Oliver verboten und wenn sie abends fortging, musste sie sich regelmäßig melden. Manchmal fragte Marie sich, in welcher Zeit ihr Vater eigentlich lebte. Sie war achtzehn und keine zwölf mehr, er konnte von Glück sagen, dass sie überhaupt noch auf ihn hörte. Das tat sie nur, weil er immer so gut zu ihr gewesen war, weil die Beziehung zwischen ihnen immer etwas Besonderes gewesen war. Sie hatte ihm nicht noch mehr wehtun wollen, sie wusste, wie groß seine Angst war, sie zu verlieren. Sie hatte gehofft, er würde irgendwann zur Vernunft kommen, doch er ließ ihr keine Wahl. Andere Mädchen in ihrem Alter waren längst selbstständig, wohnten allein und niemand redete in ihre Beziehungen hinein. Sie hingegen wurde immer noch behütet wie ein Kind und sollte sich auf die Matura vorbereiten, obwohl sie überhaupt keine Lust hatte, die Schule zu Ende zu machen. Oliver hatte sie mit seiner Abenteuerlust angesteckt.
Der Laptop war hochgefahren und ein grinsender Oliver begrüßte sie auf ihrem Desktop. Die Haare hingen ihm wirr in die Stirn und in seinen Augen lag dieses Glitzern, das ihm eigen war. Das Foto hatte sie vor einigen Monaten im Prater geschossen. Oliver liebte diesen Ort, vor allem nachts, wenn keine Besucher mehr dort waren. Mehrfach hatte sie sich aus dem Haus geschlichen, um mit ihm gemeinsam den einsamen Park aufzusuchen. Sie waren zwischen den geschlossenen Buden und Fahrgeschäften herumgelaufen und er hatte ihr Geschichten erzählt, von denen sie die Hälfte nicht glauben wollte. Stets hatten sie einen großen Bogen um das Ponykarussell gemacht. Oliver wusste, wie viel Mitleid sie mit den Tieren hatte.
Marie öffnete den Browser und rief ihre E-Mails ab. Keine Nachricht von Oliver, nur zwei von Jasmin, mit dem Handy von der Party aus verschickt. Sie überflog die Texte, schloss das Programm und trat ans Fenster. Sie starrte nach draußen.
In der Goldschmiede ihres Vaters brannte kein Licht, also schlief er schon. Hoffentlich würde er nicht doch noch aufwachen und merken, dass sie high war. Ihr schlechtes Gewissen machte sich bemerkbar und gleichzeitig wurde sie wütend. Sie fühlte sich eingesperrt. Eingepfercht wie die Karussellponys, nur dass sie nicht jeden Tag im Kreis laufen und auf das Mitgefühl ihres Besitzers hoffen musste. Marie lachte auf, in ihrem immer noch vernebelten Kopf klang es wie ein Schluchzen. Ihr Besitzer war dann wohl ihr Vater.
5.
Dominik starrte in die Grube, während mehrere Beamte versuchten, den Leichnam so unversehrt wie möglich zu bergen. Das Skelett war intakt und auch der Schädel gut erhalten. Wie Dominik zu erkennen glaubte, war er kleiner als die Köpfe normaler Babys. Seine Tochter Lea hatte bei ihrer Geburt vor
Weitere Kostenlose Bücher