Die Mutter
noch.»
Jürgen schaute auf die Tür, die sich hinter Klinkhammer schloss. «Aber sicher», sagte er leise. Dann schaute er mich an. «Nun hat der Teufel Udo doch nehmen müssen, was? Er ist ja nicht freiwillig gekommen.»
«Jetzt werden wir nie erfahren, was er mit Rena gemacht hat und wo sie ist.»
Jürgen lächelte sanft, wehmütig und endgültig. «Was er mit ihr gemacht hat, will ich gar nicht wissen. Und wo soll sie schon sein, Vera? Im Himmel, bei den fliegenden Pferden.»
Irgendwie ging es weiter – nur irgendwie. Wie soll es auch sonst gehen, wenn das Leben ein Loch hat? Es gab Tage, da fühlte ich mich zwischen Aufstehen und Schlafengehen wie ein Automat. Es gab andere Tage, da fehlten mir abends ein paar Stunden.
Ich wusste immer genau, wo ich die fehlende Zeit verbracht hatte, im Parlamentsviertel in London oder am Bahnhof in Frankfurt, manchmal war ich auch am Hamburger Hafen gewesen, aber dort nur selten.
Es gab Nächte, da sackte ich weg wie ein Stein im Wasser, kaum dass ich die Augen geschlossen hatte. Und es gab andere Nächte, dawar ich unterwegs. Obwohl ich neben Jürgen im Bett lag, saß ich im Auto und war auf dem Weg nach Irgendwo.
Nichts war mehr wie früher, aber alles normalisierte sich. Morgens die Praxis, mittags der Kochtopf, nachmittags die Praxis, abends ein bisschen Haushalt. Wir teilten redlich, die Einkäufe für Jürgen oder Anne, Staubsauger und Waschmaschine für mich. Es blieb viel liegen, damit Mutter, wenn sie irgendwann zurückkam, auf Anhieb sah, wie unentbehrlich sie uns war.
Rudi Kuhlmann und Udo von Wirth wurden beerdigt. Es muss ein armseliges Begräbnis gewesen sein. Die Grabrede hielt ein Mann vom Beerdigungsinstitut, der alte Pfarrer hatte sich geweigert, einen Selbstmörder und Mörder würdig unter die Erde zu bringen. Ob er mit ‹Mörder› Rudi Kuhlmann oder Udo von Wirth meinte, erfuhren wir nicht.
Am Grab standen nur Hennessen, Scherer und Otto. Gretchen erzählte abends am Telefon, Udos Mutter habe sich in einigen Meter Entfernung in die Büsche gedrückt. Otto hatte es so erzählt.
Vater wurde in die Reha-Klinik verlegt und lernte, sich mit Hilfe eines Stocks vorwärts zu bewegen. Er wollte nicht, dass wir ihn besuchten. «Tut so, als seien wir in Urlaub», sagte er. «Wir brauchen alle ein bisschen Ruhe und Abstand.» Mutter quartierte sich in einem Hotel in seiner Nähe ein.
Anne redete sich wieder mit Abiturvorbereitungen heraus, wenn sie keine Lust hatte, ihre Blusen selbst zu bügeln. Meist war sie bei Patrick, wenn wir am frühen Abend heimkamen. Manchmal fanden wir einen Zettel mit einer Nachricht neben dem Telefon, manchmal nicht. Manchmal zeigte das Zählwerk des Anrufbeantworters eine Eins. Die Ansage hatte Jürgen wieder geändert. Manchmal hatte Gretchen angerufen und hinterlassen, was Frau Ziegler im Dorf verbreitete.
Dass der alte von Wirth dem halben Dorf mit Verleumdungsklagen drohte. Dass Udos Mutter dreimal täglich in der Kirche saß und sich die Hände wund betete. Dass Kuhlmanns Hof zum Verkaufstand. Dass Hennessen mit dem Gedanken spielte, das dazugehörige Land zu erwerben, vielleicht auch Wohnhaus und Nebengebäude. Einen Reiterhof wollte er eröffnen.
Manchmal war es Regina Kolters Stimme, die mich mit Neuigkeiten über das zufriedene Leben junger Mädchen in Grün und Blau versorgte. Anfangs bekam Jürgen noch Tobsuchtsanfälle, wenn ich ihre Botschaften abhörte, später kümmerte er sich nicht mehr um den Humbug.
Einmal erzählte Regina Kolter, dass sie einen Versuch mit dem Schreibbrett unternommen hätten. Es war natürlich ein durchschlagender Erfolg geworden. Es war ihnen gelungen, André Menke zu interviewen. Nun wussten sie genau, was geschehen war.
Montagmorgen in Frankfurt. Es regnet. Nita geht es sehr schlecht. Rena schlüpft in ihr Regencape und bricht auf, um ein Medikament zu besorgen. Wenig später klopft es an die Hecktür des Busses. Menke öffnet, weil er annimmt, Rena käme zurück. Aber vor ihm stehen drei Skinheads. Sie schlagen sofort zu.
André Menke löst sich gezwungenermaßen von seinem Körper und muss hilflos unter der Decke schwebend zuschauen, wie Nita von einem der Kerle Gewalt angetan, wie sie anschließend aus dem Bus geworfen wird. Menkes nutzloser Leib fliegt hinterher auf die Straße.
Sein Astralkörper war selbstverständlich bei Nita geblieben, hatte als guter Geist über sie gewacht, dafür gesorgt, dass sie eine warme Stube und ein Telefon erreichte und wieder mit Rena
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