Die Mutter
sie nicht und der Raum war leer.
Sie saßen im Sprechzimmer. Die Zwischentür stand einen Spalt breit offen. Jürgen sprach von Kemnichs Anrufen und der Heimkehr seiner Schwiegereltern. Er hoffte, dass ich unter Vaters Einfluss wieder zu mir selbst fände, wollte keinen weiteren Ärger heraufbeschwören und empfahl Eva Kettler, sich einen anderen Arzt zu suchen.
«Wozu?», fragte sie. «Ich denke nicht daran. Du bist mein Arzt und damit basta.»
«Tu mir den Gefallen», bat er. «Sie dreht durch, wenn sie dich noch einmal hier sieht.»
«Das wäre aber mal eine Abwechslung», spottete Eva Kettler.
Jürgen blieb ruhig. «Hast du eine Ahnung, wie das ist, ein Kind auf die Weise zu verlieren? Nein, woher solltest du auch. Du hast so viel Mutterinstinkt wie ein Kuckuck.»
«Ach komm», sagte Eva Kettler. «Jetzt wärm nicht wieder die alte Geschichte auf. Wenn es nur nach mir gegangen wäre, ich hätte es gekriegt. Das weißt du auch. Darf ich dich daran erinnern, wer für Abtreibung war? Wer hat mir denn eingeredet, es wäre die beste Lösung? Wenn du mir so kommen willst, dann pass auf, ich kann auch anders.»
Ich hatte genug gehört. Um ehrlich zu sein, Eva Kettler interessierte mich nicht mehr. Es war mir egal, seit wann und ob Jürgen mich noch mit ihr betrog oder ob sie ihn mit irgendwas erpresste.
Zwanzig Minuten später war ich daheim. Mutter stand in der Küche und schälte Kartoffeln. Auf dem Herd brutzelte etwas. Es roch wie in alten Zeiten nach einem guten Braten. Vater saß vor dem Fernseher und der Ton war zu laut eingestellt. Anne war in ihrem Zimmer, saß vor der Kopie eines Artikels aus einer Fachzeitschrift an ihrem Schreibtisch. «Die Rolle der Histone bei der Genregulation». Eine höchst interessante Sache für Anne, nicht für mich. Die Tür zu Renas Zimmer war geschlossen.
Beinahe hätte ich angeklopft, ich hatte die Hand schon erhoben. Sie fiel wie von selbst herunter. Dann saß ich auf ihrem Bett. Mit leeren Händen. Das Fach ihres Nachttischs war leer, nicht ein einziges Tagebuch mehr darin. Ich suchte alles ab, in ihrem Zimmer und in unserem. Auf dem Dachboden, im Keller, in der Scheune. Ich fragte Anne, Mutter und Vater, Jürgen auch, als er heimkam.
«Ich habe die Bücher weggeworfen», sagte er.
«Warum?»
«Weil ich mir das nicht noch einmal antun wollte. Und dir auch nicht.»
«Ich hatte die letzten drei noch nicht gelesen.»
«Das hatte ich gehofft», sagte er.
«Ich will wissen, was drin stand!»
«Das habe ich dir doch erzählt», sagte er und schaute zum Fenster hinüber. «Dass wir sie wohl geliebt hätten – irgendwie. An diesem Irgendwie bin ich fast erstickt. Ich kaue immer noch dran, Vera. Vielleicht wird es mir mein Leben lang wie ein Stein im Magen liegen. Aber das ist mein Problem. Ich sage mir jeden Morgen beim Aufwachen und jeden Abend vor dem Einschlafen: Wir waren vielleicht nicht die besten Eltern für sie, aber wir waren auch nicht die schlechtesten. Manche Sätze muss man sich tausendmal vorsagen, ehe man sie glaubt. Und nun gib Ruhe, Vera. Tu uns allen den Gefallen und gib Ruhe. Sie ist tot! Begreif das endlich. Du machst sie nicht wieder lebendig, wenn du dich auf ihre Tagebücher stürzt und uns vorrechnest, was wir falsch gemacht haben. Das war gestern, Vera.»
Er hob die Hand und zeigte zur Couch. «Und heute sitzt da dein Vater, der gerne seine Ruhe hätte. Und da sitzt deine Mutter, die gerne ihre Ruhe hätte. Und da sitzt Anne, die vielleicht gerne einmal wieder erleben möchte, wie es ist, wenn man eine Mutter hat. Von mir will ich gar nicht reden.»
Begreif das endlich, Vera! Sie ist tot! Das steht nirgendwo geschrieben.
Fünf Tage später rief Regina Kolter an. Es war ein Dienstag. Sie hatte ihre Tochter nicht heimgeholt in ihre helle Eigentumswohnung. Sie war mit ihr in Köln – Klinikum Merheim. Einer ihrer zahl- und einflussreichen Freunde hatte dafür gesorgt, dass Nita ein Bett bekam. Darum gerissen, sie aufzunehmen, hatte sich in Merheim wahrscheinlich niemand.
Leider rief Regina Kolter am späten Abend an. Der Anrufbeantworter war zwar nicht eingeschaltet, Jürgen begriff trotzdem, mit wem ich sprach. Regina Kolter sagte, sämtliche Vorhersagen ihrerBekannten seien durch Nita bestätigt worden. Wenn ich Wert darauf legte, mit ihrer Tochter persönlich zu sprechen, ich könnte gerne kommen. Aber ich solle mir nicht zu viel Zeit lassen.
«Ich komme morgen Nachmittag», sagte ich.
Jürgen versuchte es mir auszureden. «Wenn
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