Die Mutter aller Stürme
zwei Freunden ein dröhnendes
Gelächter; was ihm an seinen mexikanischen Freunden so
gefällt, ist, daß man sie noch überraschen kann.
Jesse führt das auf die Restspuren der Konditionierung durch den
Katholizismus zurück. Wie dem auch sei, der Anflug von
Eifersucht oder Neid ist anscheinend verflogen, so daß er »Adiós« sagt und weitergeht.
Er sagt sich, daß Tapachula weniger eine Stadt ist, in der
nichts los ist als vielmehr eine, in der Taten statt Worte auf der
Tagesordnung stehen. Tapachula ist eine Arbeiterstadt. Und wie die
meisten Arbeiter sind sie durchaus dankbar für Unterbrechungen,
möchten die Arbeit dann aber auch erledigen. Also wird neuer
Klatsch immer mit gemischten Gefühlen betrachtet – eine
willkommene Pause, aber eben auch eine Störung.
Vielleicht sind sie aber auch der Ansicht, daß es wohl nur
einem Gringo gelingt, einen XV-Star ins Bett zu bekommen, und es hat
erneut den Anschein, daß die guten Dinge des Lebens nur
für los norteamericanos reserviert seien. Er würde
ihnen gern die Wahrheit sagen – daß er und Mary Ann es nur
einmal gemacht haben und daß es ihm gar nicht besonders
gefallen hat, daß ihr Körper richtig synthetisch wirkt und
er nicht sicher ist, ob er es noch auf einen weiteren Versuch
ankommen lassen will –, aber tief im Innern bezweifelt er,
daß sie ihm glauben würden, und selbst wenn das der Fall
wäre, würden sie sich wahrscheinlich nur ärgern,
daß sie sich ausgerechnet an ihn verschwendet.
Als er um die Ecke biegt, befindet er sich in ihrer Straße;
es ist schon sehr warm, und die weißen Gebäude bilden
einen schier unerträglichen Kontrast zum sich bis an den
Horizont erstreckenden, strahlend blauen Himmel. Er spürt
direkt, wie die von den Häusern reflektierte Hitze ihm ins
Gesicht schlägt und sich hinter der kleinen schwarzen
Sonnenbrille staut. Er seufzt, als ob er die warme Luft aus sich
herauslassen wollte, legt dann die letzten Schritte zu den
Bäumen zurück, die den Hof ihres Anwesens säumen, und
tritt in ihren Schatten, als ob er im Dschungel in einen kühlen
Teich gleiten würde.
Sie kommt zu seiner Begrüßung an die Tür. Sie hat
ein weißes Kleid an, und nach dem, was man schon mit ihr
angestellt hat, läßt es sich kaum vermeiden, daß
elegante Kleidung die Aufmerksamkeit sofort auf ihren obszönen
Körper lenkt, aber das hier ist ein guter Kompromiß. Das
Kleid bauscht sich an den meisten Körperpartien (wobei jedoch
die großen Brüste nicht kaschiert werden), aber es ist
kokett und frivol und hat sehr große Ähnlichkeit mit einem
Kleidchen für kleine Mädchen. Die Lockenpracht hat sie
unter einem weiten Sonnenhut verstaut, und sie weist tatsächlich
eine verblüffende Übereinstimmung mit den kleinen
Mädchen in weiten Kleidern auf, wie sie auf alten Bildern
dargestellt sind.
»Du siehst großartig aus«, sagt Jesse und meint es
auch so.
Sie strahlt ihn an, wobei ihm auffällt, daß sie die
paar Sommersprossen um ihre Stupsnase nicht entfernt hat, und er
fragt sich, ob sie es nur vergessen oder bewußt unterlassen
hat. Er küßt sie zaghaft auf die Wange, und sie umarmt ihn
stürmisch.
»Ich dachte, daß wir einen Stadtbummel machen,
vielleicht ins Kino gehen oder uns in ein Cafe oder auf eine Parkbank
setzen«, sagt sie. »Sonst gibt es hier nicht viele
Attraktionen.«
»Ich bin heute abend auf eine Party eingeladen, und wenn du
möchtest, kannst du mich begleiten«, entgegnet Jesse.
»Ein Haufen Linker, von Alt-Stalinisten über Deepers bis zu modernen Ultra-Linken. Die einen werden dich bemitleiden
und die anderen werden dich fragen, ob du dich ausgebeutet
fühlst.«
»Ich werde gerne bemitleidet und liebe Gespräche
über meine Ausbeutung. Mich in Selbstmitleid zu ergehen, ist
aber mein größtes Talent. Ich weiß, wie ich mit den
Leuten umgehen muß, Jesse. Und ich hätte auch nichts
dagegen, mal ein paar neue Gesichter zu sehen.«
»Gut«, sagt er, »also heute abend um neun.
Tapachula-Zeit, was bedeutet, daß es erst um zehn anfängt,
und Leftie- Zeit,was besagt, daß es erst um Mitternacht
richtig losgeht. Ich würde also sagen, wir haben noch reichlich
Zeit zum Spazierengehen. Ihren Arm, Madam.«
»Gern. Nur nicht, wenn wir eine Straße überqueren.
Ich möchte nämlich nicht, daß man dich für einen
Pfadfinder hält.«
Als sie aus dem Schatten des Vorgartens heraustreten, kommt es
ihnen so vor, als ob sie sich plötzlich im Lichtkegel eines
Suchscheinwerfers befänden; vor dem drückend heißen
und
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