Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
Vom Netzwerk:
grellweißen Sonnenlicht gibt es kein Entrinnen.
    Sie verbringen eine Stunde damit, in der Stadt zu flanieren und
die Menschen bei ihren Freizeitaktivitäten zu beobachten. Fast
die ganze Zeit gehen sie Hand in Hand.
    Aus irgendeinem Grund – vielleicht deshalb, weil sie hier
draußen über bestimmte Dinge nicht unbefangen reden
können – schneiden sie das Thema ›Sex‹ nur am
Rande an. Sie haben zuvor zwar oft miteinander geschäkert, und
Jesse hat so getan, als würde er befürchten, daß Mary
Ann wieder über ihn herfällt. Woraufhin sie ihn gefragt
hat, wie man sich denn so als Impotenter fühlt. Das sollte zwar
ein Scherz sein, hatte für Jesse aber einen schalen
Beigeschmack.
    Ein weiterer Grund, dieses Thema in der Öffentlichkeit
diskret zu behandeln, besteht darin, daß es durch die
ständigen Unterbrechungen nicht allzu vertieft wird. Jesse
begegnet einigen seiner Schüler und stellt sie Mary Ann vor, und
außerdem gibt es Dutzende kleiner Karren mit exotischen
Gerichten, die in Augenschein genommen werden müssen (wobei sie
in der Regel auf eine Kostprobe verzichten), und manchmal schlendern
sie einfach nur stumm die Straße entlang. Auf diese Art kommen
sie gar nicht erst in Versuchung, miteinander zu flirten, und sie
sprechen dieses Thema auch so schnell nicht wieder an.
    »Jesse, meinst du, ob unsere Beziehung sich vielleicht auch
anders hätte entwickeln können?« fragt sie
unvermittelt und mit abgewandtem Blick.
    Er schaut zur Seite, wobei er nur die Krempe ihres Sonnenhuts
erspäht. »Darüber habe ich noch gar nicht
nachgedacht.«
    »Nun, ich schon. Und ich bin zu dem Schluß gekommen,
daß es sich auf gar keinen Fall anders hätte ergeben
können. Deshalb freue ich mich sehr, daß es überhaupt
geschehen ist«, sagt sie seufzend. Jesse sieht, daß einige
feuerrote Locken unter dem Sonnenhut hervorlugen und schiebt sie
zurück. Sie schaut ihn lächelnd an: »Ich will damit
nur sagen, daß wir uns aufgrund seltsamer Umstände
kennengelernt haben, aber es gab vieles in meinem Leben, das ich
schon vergessen und aus dem Blick verloren hatte…«
    Ach, darauf läuft es also hinaus. Jesse hat schon vor einiger
Zeit erkannt, daß trotz ihrer Konditionierung zu Synthi Venture
noch ein großer Teil von Mary Ann Waterhouse existent ist, der
sich einer Konditionierung immer widersetzt hat. Zum einen neigt sie
dazu, die emotionsgeladene Diktion der Dialoge in den alten Filmen zu
imitieren. Sie verbreitet sich noch ein wenig über die
›Wiederherstellung des Gleichgewichts‹ und die
›Konzentration ihrer Energien‹, was letztlich in den
Schluß mündet, daß sie Jesse »als eine
Schlüsselperson in meinem Leben betrachtet«. Er
interpretiert das so, daß sie glücklich ist über ihr
Zusammensein; solcher Sprüche hat er sich auch immer bedient,
wenn er mit der alten ›sensibler, musisch veranlagter junger
Mann‹-Masche ein Mädchen ins Bett bekommen wollte, aber er
hat eigentlich nicht den Eindruck, daß sie versuchen
würde, ihn zu verführen.
    Er legt ihr einen Arm um die Schulter, wobei er merkt, wie klein
sie im Grunde ist, und zieht sie an sich. Die Straße ist fast
menschenleer, nur zwei andere Paare laufen weit an ihnen entfernt
vorbei. Die Straße führt zu einem nicht sonderlich
beeindruckenden, kleinen Springbrunnen, der träge im
gleißenden Sonnenlicht vor sich hin plätschert, und er
geleitet sie zur Einfassung des Brunnens; sie setzen sich hin, und er
küßt sie.
    Dies ist der erste richtige Kuß seit jener schrecklichen
ersten Nacht – er hat ihr seitdem zwar einige
Gute-Nacht-Küsse gegeben, aber das war nur ein reines Touche der
Lippen – und es erstaunt ihn, wie sanft und sensibel sie sich
jetzt verhält. Sie scheint ihm die Initiative überlassen zu
wollen, und zögernd legt sie ihre weichen Lippen auf seinen
Mund. Dieser Kuß dauert ziemlich lange, und als sie sich
voneinander lösen, lächelt sie wie ein junges Mädchen
nach dem allerersten Kuß.
    »So bin ich schon sehr lange nicht mehr geküßt
worden«, sagt sie dann. »Ich wundere mich wirklich,
daß ich überhaupt noch so empfinden kann.«
    »Nun, da du dazu noch in der Lage bist, wie war es
denn?«
    »Göttlich, verdammt. Ich würde es nicht sagen, wenn
es nicht so wäre. Aber egal; jetzt, wo wir den sentimentalen
›Kuß-am-Springbrunnen‹- und
›Hand-in-Hand-Spazierengehen‹-Klischees entsprochen
haben…«
    »Leider noch nicht«, erwidert er. »Ich habe noch
etwas Sentimentales in petto. Da ist ein licuado- Standum

Weitere Kostenlose Bücher