Die Mutter aller Stürme
Vorstellung davon, was sich in ›Clem‹
abspielt – vielleicht handelt es sich sogar um den
größten Fallstrom der Geschichte.«
Carla lehnt sich auf dem Stuhl zurück und reibt sich den
Rücken; als entspannender, gemütlicher Vorruhestand ist die
ganze Sache mit MyBoat ein kompletter Reinfall. Sie hat schon
seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen, ihr Hintern ist so
wundgesessen wie damals in Washington, und nach dem Durchzug von
›Clem‹ ist der Pazifik zu stürmisch und
aufgewühlt zum Sonnenbaden. »Sag das noch mal«,
verlangt sie.
»Was, daß es vielleicht der größte Fallstrom
der Geschichte ist? Das war nur so ein Gedanke von Gretch, unserer
Praktikantin – sie hat die Zentralkraft dieses großen
Wirbelsturms berechnet, und daß er nicht unter seiner eigenen
Masse kollabiert, liegt nur daran…«
»…daß er feuchte Luftmassen vor sich herschiebt
– natürlich! Gib dieser Praktikantin einen Kuß von
mir und laß sie nicht mehr weg. Ihr werdet sie brauchen. Ich
habe eine Idee, Di, und werde mich bald wieder bei dir
melden.«
Er verabschiedet sich mit einer Kombination aus militärischem
Gruß und Winken, und sie unterbrechen die Verbindung. Sie fragt
sich, wie er es begründen will, daß er zweimal am Tag
verschiedene öffentliche Telefone benutzt, und ob ihre
Direktverbindung zu Louie überhaupt sicher ist… und erneut
überlegt sie, warum jemand ihre Untersuchungen in dieser Sache
sabotieren sollte. Nun, Di ist das politische Talent, nicht sie.
Ein Fallstrom ist ein zeitlich begrenztes Merkmal mancher
Wirbelstürme. Während die Luft oben aus der rotierenden
Röhre des Auges ausströmt, formiert sich die Warmluft
manchmal zu einem gebündelten, vektorierten Strom, anstatt in
alle Richtungen abzufließen und sich in weiter Entfernung
abzuregnen. Ein solcher Strom wird als Fallstrom bezeichnet.
Ein Fallstrom ist viel massereicher als ein konventioneller
Dispersionsstrom – also ›entgrenzt‹ er den Umfang
eines Wirbelsturmes, denn es kann nur so viel Luft unten
nachströmen, wie oben ausströmt, und weil der Fallstrom die
Luft effektiver abführt, wird der Wirbelsturm stärker.
Aber es gibt noch einen signifikanteren Effekt; die gesamte Luft
strömt punktuell an der Seite des Wirbelsturmes nach unten, und
die Menge dieser absinkenden Luftmassen erzeugt eine Hochdruckzelle.
Die Luft strömt immer von Hochdruck- zu Tiefdruckzonen, und das
Auge eines Wirbelsturms ist eine Tiefdruckzone, wobei der dort
herrschende Luftdruck nur noch vom Zentrum eines Tornados unterboten
wird – also strömt der Fallstrom wieder ins Auge des
Wirbelsturms zurück, wobei dieser quasi auf dem Fallstrom
reitet; dieser treibt den Wirbelsturm vor sich her. Der Fallstrom
wirkt wie das offene Ende eines losgelassenen Luftballons und
bläst den Wirbelsturm über den Ozean.
Das Bild eines im Zimmer umherfliegenden Luftballons paßt
auch in der Hinsicht, daß die Position des Fallstroms relativ
zum Wirbelsturm nicht stabil ist; wie das Mundstück während
des Fluges seine Position auf dem Ballon verändert, wandert auch
der Fallstrom um den Wirbelsturm herum. Daher ist es möglich,
daß ein Wirbelsturm mit einem Fallstrom plötzlich den Kurs
ändert, beschleunigt oder eine Kreisbahn einschlägt, wobei
dies unabhängig vom Höhenwind in ungefähr 6000 m
Höhe geschieht, der normalerweise den Pfad eines Wirbelsturmes
bestimmt. Ein Wirbelsturm hat manchmal auch mehr als einen Fallstrom,
wobei größere Hurrikane generell zu Fallströmen
tendieren; deshalb wiesen einige der verheerendsten Stürme der
Geschichte nicht nur die höchste Windstärke auf, sondern
waren auch am unberechenbarsten und neigten dazu, plötzlich von
ihrem mutmaßlichen Pfad abzuweichen und Küstenregionen
heimzusuchen, die eigentlich als ungefährdet galten.
Carla ist soeben zu der Erkenntnis gelangt, daß, wenn die
stärksten Wirbelstürme einen Fallstrom hatten – und
manchmal sogar mehrere –, dies beim größten Sturm in
der Geschichte mit Sicherheit der Fall ist.
Sie muß nur eine Stunde mit dem Modell arbeiten, bis ihr der
Vorgang klar wird. Die Fallströme der bisher stärksten
Wirbelstürme waren gerade so stark, daß sie gegen den
Höhenwind ankämpfen konnten. Ein Wirbelsturm folgt fast
immer dem Höhenwind, und der Fallstrom, so es einen gibt,
bewirkt wohl eine gewisse Abweichung vom theoretischen Pfad, aber er
bestimmt den Kurs nicht allein. Bei einem konventionellen Wirbelsturm
stellt dieser unberechenbare Strom die
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