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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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Sekundärkraft der
Bewegung dar – die Primärkräfte sind nach wie vor der
konstante Höhenwind und die gleichermaßen konstante
Coriolis-Kraft.
    Weil ›Clem‹ aber so viel größer ist, erkennt
Carla, daß man sich hier in den Bereich der Non-Linearität
begibt, wo ›größer‹ zugleich auch
›anders‹ bedeutet. Betrachtet man den Fallstrom, so
muß er nur seine eigene Masse bewegen, um in Bewegung zu
bleiben, und wenn man den viel größeren Druck-Gradienten
zwischen der nach unten gerichteten Luftströmung und dem weit
unterdurchschnittlichen Luftdruck im Auge betrachtet – dann
werden plötzlich der Höhenwind und die Coriolis-Kraft zu
Sekundär-Kräften degradiert. Der Fallstrom hat sich nun zur
treibenden Kraft entwickelt.
    Ein Fallstrom ist indes nicht völlig unberechenbar. In der
Regel umkreist er den Wirbelsturm im umgekehrten Uhrzeigersinn, wenn
auch mit einer beachtlichen ›Unwucht‹, und normalerweise
ist er nicht dauerhaft genug, um ein Muster zu bilden. Wenn der
Wirbelsturm dem Höhenwind folgt, schleppt er den Fallstrom
üblicherweise nach und steigert dadurch seine Geschwindigkeit,
ohne jedoch vom vorgegebenen Kurs abzuweichen.
    Also weiß sie nun – oder hofft zumindest, es zu wissen
–, warum das Verhalten von ›Clem‹ im Grunde nicht von
der Norm abwich, wenn man die Überquerung des Kältepunktes
mitten im Pazifik sowie die Tatsache außer Acht
läßt, daß er größer wurde, anstatt zu
schrumpfen, und warum er nun in völlig unvorhersehbarer Art und
Weise von West nach Ost zieht. Und wenn sie sich nicht völlig
irrt, kann sie jetzt eine Prognose erstellen. ›Clem‹ wird
nicht nur, anders als ein typischer Wirbelsturm, lange Zeit in
West-Ost-Richtung wandern, weil er so weit im Norden noch warmes
Wasser zur Verfügung hat und einen Fallstrom, der ihn sogar
gegen den Höhenwind vorantreibt…
    Sie sind alle davon überzeugt, daß er sich jetzt jeden
Tag drehen und Kurs auf Sibirien nehmen, über das zwölf
Grad kalte Wasser südlich der Beringstraße hinwegziehen
und sich in einem Gewitter auflösen wird, wobei er unterwegs
vielleicht noch Hawaii oder Japan streift. Aber wenn sie recht hat,
wird es ganz anders kommen.
    Sie sortiert die Daten, Modelle, Notizen und sonstigen Arbeiten
– es dauert fast vier Stunden, bis sie die Unterlagen so
aufbereitet hat, daß Di und sein Team etwas damit anfangen
können, und als sie sich schließlich setzt und die Daten
abspeichert, hat sie vor Erschöpfung rote Augen. Sie nimmt einen
ordentlichen Schluck Wasser und sagt: »Kanal Zwei.« Das
grüne Lämpchen auf dem Recorder geht an, und sie
spricht:
    »Di, das Folgende ist von größter Wichtigkeit.
Wenn du diese Nachricht erhältst, wird nicht mehr viel Zeit
bleiben. Wir müssen jetzt die Öffentlichkeit informieren.
›Clem‹ wird nicht wieder auf Gegenkurs gehen und sich wie
ein normaler Sturm verhalten – er wird seinen Ostkurs vielmehr
beibehalten und dann nach Süden drehen, wobei er noch an Dynamik
gewinnt. Ich weiß nicht, wo ›Clem‹ wieder auf Land
treffen wird, aber es ist durchaus möglich, daß er Hawaii
verwüstet oder die ganze Westküste. Die Evakuierung
hätte schon vor einer Woche geplant werden müssen; es
bleiben uns vielleicht nur noch drei Tage, bis ›Clem‹
zuschlägt.«
    Dann stellt sie die Uhr so, daß sie in vier Stunden wieder
geweckt wird. In dem kleinen Luxus-U-Boot riecht es wie im
Umkleideraum ihrer Schule, und es stört sie nicht einmal; im
Schubfach unter ihrer Koje befindet sich frische Bettwäsche, und
die Dusche ist keine zwei Meter entfernt, aber sie rafft sich nicht
auf, von diesen Optionen Gebrauch zu machen. Später weiß
sie nicht einmal mehr, wie sie ins Bett gekommen ist; sie erinnert
sich nur an unangenehme Träume, bis der Wecker sie aus der Koje
scheucht; sie ist zwar noch immer müde, aber wenigstens wieder
in der Lage, sich zu konzentrieren.
    * * *
    Je länger Jesse darüber nachdenkt – und er versucht
es zu unterdrücken –, desto verrückter kommt es ihm
vor, daß er sich noch immer mit Synthi beziehungsweise Mary Ann
(mit diesem Namen soll er sie anreden) trifft. Nicht, daß sie
viel gemeinsam hätten (obwohl sie durchaus miteinander sprechen)
oder daß der Sex besonders gut wäre (es findet
nämlich keiner statt), und sie haben auch keine Beziehung
miteinander (obwohl er durchaus registriert, daß er sich kaum
merklich verändert, wobei er diese Veränderungen schon
interessant findet).
    In der ersten Woche dieses seltsamen

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