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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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Ansprechpartner für
meteorologische Angelegenheiten ist.
    Während sie den Text abfaßt, entwirft sie simultan
Tausende von Modellen, die ihre Nachricht vielleicht in einem
günstigeren Licht erscheinen ließen; aber es ergibt sich
immer wieder das gleiche düstere Szenario.
     
    Diogenes Callare und Harris Diem erfahren es zur selben Zeit, kurz
nachdem Berlina Jamesons Daten-Späher Carlas Bericht abgefangen
haben.
    Am späten Nachmittag, als die beiden Männer von Henry
Pauliss’ Beerdigung zurückkehren, wobei ihre Hemden in der
Julihitze von D.C. völlig durchgeschwitzt sind, liegt schon seit
Stunden eine neue Ausgabe von Sniffings vor.
    Die ohnehin schon stolze Berlina bekommt noch mehr Oberwasser. Die
Agenturen teilen ihr mit, daß sie an drei verschiedenen Orten
ein Stammpublikum hat, was von Vorteil ist, denn so kann sie von Zeit
zu Zeit das Publikum abwechselnd düpieren.
    Bei ihren treuesten Anhängern handelt es sich um ältere
Leute, die sich noch an Bartnick, Arnott und Rather erinnern…
Teufel, manche von ihnen kennen vielleicht sogar noch Cronkite –
und für die Berlinas Nachrichtenpräsentation ein
nostalgischer Genuß ist. So ist es eben – mit Klassik
lockt man Klassizisten.
    Aber auch bei Anhängern der Vereinigten Linken
stößt ihr Konzept wegen des ›Low-Tech‹-Ansatzes
auf Resonanz (obwohl sie gerne wüßte, was daran
›Low-Tech‹ sein soll, wenn sie die TV-Dokumentationen auf
der Rückbank ihres auf Autopilot gestellten Fahrzeuges
produziert). Außerdem sehen die Linken sich bei ihrer
Berichterstattung anscheinend in ihrer (zutreffenden) Auffassung
bestärkt, daß sich hinter den Kulissen jede Menge
abspielt. Und auch dagegen ist nichts einzuwenden – die Linken
jeglicher Couleur, ob sie sich nun für Internationalisten halten
oder nicht, haben eine traditionelle Affinität zu den
unabhängigen Medien in aller Welt.
    Dann existiert da noch eine weitere Gruppe, die sie jedoch nicht
recht einzuordnen weiß… es gibt eine große Zahl
junger Abonnenten, denen ihre Nachrichten gefallen, weil sie
›hip‹ seien; dieser Begriff stammt wie ›cool‹ aus
dem Szenejargon und steht für ›gut‹.
    Das ist an sich auch in Ordnung, obwohl Berlina mit
›hip‹ eine gewisse Unseriosität assoziiert, wobei sie
ja gerade das entgegengesetzte Konzept vertritt. Sie hat das erste
Video abgefangen, das die Army gedreht hatte, als die
Sichtverhältnisse über Honolulu es wieder zuließen,
und dann eine Großaufnahme der Leichen von Studenten auf der
Kalei Road gemacht. Sie hatten im Schutzraum der Universität
Zuflucht gesucht, der im Sog der vierten Flutwelle zerstört
wurde; die Studenten wurden vom Wasser aus dem Bunker gesaugt und,
sofern sie nicht vorher schon ertrunken waren, in drei Kilometern
Entfernung von den Trümmern einer Einkaufspassage zermalmt. Dann
verfolgte sie, wie Präsidentin Hardshaw den Fallstricken in
Generalsekretär Riveras Hilfspaket auswich, holte Vertreter der
UN und der USA vor die Kamera, die offenkundige Tatsachen
dementierten und erhaschte sogar eine Szene, in der ein UN-Gesandter
aus Ecuador auf den Tisch schlug und seinen Untergebenen versprach,
daß »wir bei dieser Gelegenheit ein für allemal mit
den yanqui- Bastarden aufräumen«. Sie versteht zwar
nicht ganz, was daran ›hip‹ sein soll, aber trotzdem freut
sie sich über das jugendliche Publikum.
    Dann überlegt sie zum tausendsten Mal, bei der tausendsten
Tasse Kaffee, daß im Vergleich zu XV vielleicht alles
›hip‹ ist. Möglicherweise signalisiert der Gebrauch
des Wortes ›hip‹ beim eher bohèmianischen Teil der
Jugend einen gewissen Zukunftsoptimismus, einen Trend, daß die
Menschen sich von diesen verdammten Halluzinationen abwenden oder
zumindest auf Hintergrundinformationen bestehen, die eine kritische
Distanz gewährleisten und verhindern, daß man völlig
in der Geschichte aufgeht.
    Am nächsten Tag spricht sie in einer der
allgegenwärtigen Info-Börsen mit einem Professor der
Kommunikationswissenschaften, der ihr auseinandersetzt, sie sei
›brechtianisch‹, wohingegen XV ›craigeanisch‹
sei. Dies verfehlt seine Wirkung nicht – sie macht sich
über diesen Bertolt Brecht und diesen Gordon Craig kundig, und
vielleicht kann sie damit bei einem Gala-Diner oder sonstwo Eindruck
schinden –, aber im Grunde besagt das nur, daß Berlina
eher dazu tendiert, die Leute zu überzeugen, anstatt sie zu
überrollen. Was für sie aber keine neue Erkenntnis ist.
    Dieser aktuelle Titel an sich ist

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