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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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sich, und nun befindet
sie sich wieder in der Realität, die Impressionen sind
verschwunden. Der Traum war sicherlich nur eine Metapher; der
Versuch, ein wenig in die Zukunft zu schauen, wobei sie sich etwas zu
weit aus dem Fenster gelehnt hat, wie sie nun erkennt. Mehr ist aber
nicht geschehen. Beim Versuch, die Daten zu visualisieren, ist sie in
eine virtuelle Zukunft verschlagen worden. Sie ist von ihrer eigenen
Phantasie und Paranoia, ihrem angeborenen Mißtrauen
gegenüber Geschäftsleuten wie Klieg überwältigt
worden.
    Aber eine Stimme irgendwo im Hinterkopf erzählt ihr etwas
ganz anderes. Sie erkennt, daß sie auf einer anderen Ebene die
Vorgänge während der Simulation bewußt erlebte: unter
anderem hatte ein Dutzend weltweit positionierter Prozessoren alle
persönlichen und sonstigen Daten über Klieg, Rivera und
noch ein Dutzend Prominenter erfaßt und veröffentlicht. So
wird also der Times Square aussehen, nachdem der pragmatische Klieg
ihn neu gestaltet und seine Vorstellungen von Ordnung durchgesetzt
hat. Und wenn die Weltwirtschaft kurz vor dem Punkt steht, an dem die
Nachfrage nach weltraumgefertigten Materialien sprunghaft ansteigt,
und wenn Klieg tatsächlich über das Monopol der Raumfahrt
verfügt…
    Warum gab es nur weiße Menschen? Hatte Klieg in diesem
System etwa ein latentes Vorurteil umgesetzt? Hat Klieg etwa einen
ihrer Alpträume wahr werden lassen? Früher hatte Carla
einen dumpfen alten Großonkel, der aus seinem Rassismus kein
Hehl machte und sie immer mit der Drohung erschreckte, ihre schwarzen
Spielkameraden umzubringen. In seiner Stimme schwang jedesmal eine
perverse Freude mit, wenn er Anekdoten über Lynchjustiz zum
besten gab, die er von älteren Verwandten aufgeschnappt hatte.
Er sprach mit einem ähnlichen Akzent wie Klieg… war das
vielleicht der Grund für diese Assoziation?
    Sie schaut nach unten und merkt, daß sie noch immer den
Datenstecker in der Hand hält. Und jetzt, wo sie hellwach ist,
müßte sie eigentlich imstande sein, den Vorgang zu
abstrahieren.
    Carla stöpselt sich wieder ein und versucht, sich zu
entspannen, wobei sie sich aber dagegen wehrt, wieder einzuschlafen.
Das Summen der Moskitos vor dem Moskitonetz verschmilzt mit dem
Summen des elektronischen Netzes…
    Und dann trifft sie ein Schock. Dort draußen ist eine
Wesenheit, die nach ihr Ausschau hält, das Gefühl,
daß jemand mit ihr sprechen möchte. Instinktiv zieht sie
sich zurück, aber dann erkennt sie das Phänomen und wendet
sich ihm wieder zu…
    Sie selbst?
    Sie hat den diffusen Eindruck, ihr Spiegelbild zu betrachten und
sich ihm dann immer weiter zu nähern, bis sie abrupt mit ihm
verschmilzt. Plötzlich überkommt sie die Erkenntnis. Sie
hat die Milliarden Programme nicht beendet, die parallel in Millionen
Prozessoren ablaufen. Und für sie ist die physikalische Carla
nur ein großer Prozessor, ein großer Knoten im Netz…
ein Prozessor hat sich zwar ausgeklinkt, aber die anderen arbeiten
noch…
    Und sie haben nichts anderes getan, als Carla kollektiv zu
simulieren. Nein, falsch, in gewisser Weise waren sie Carla,
eine erweiterte Version von ihr. Während sie sich abgekoppelt
hat, haben sie weitergearbeitet – mit der zehntausendfachen
Geschwindigkeit, zu der sie in der Lage gewesen wäre. Es liegt
jetzt ein vollständiger Bericht vor, den die Prozessoren so
schnell erstellt haben, daß er ihr wie ein Geistesblitz
vorkommt: die Indizien, wonach Klieg nach der Weltherrschaft strebt
(obwohl die ›weiße Version‹ vielleicht nur ein Fehler
der ersten Simulation war, denn Klieg ist die Hautfarbe anderer
Menschen egal, solange sie nur seinen Vorstellungen von korrektem
Verhalten entsprechen) und die Hinweise, daß er diese
Machtfülle tatsächlich haben wird, wenn man es
zuläßt, daß er die Welt von ›Clem‹ und
seinen ›Ablegern‹ errettet.
    Das System hat sogar Prognosen bezüglich eines Verfalls von
Kliegs ethisch-moralischem Profil unter dem Druck einer solchen
Machtfülle erstellt und ist zu dem Schluß gelangt,
daß er sich letztlich vielleicht doch nicht ändern wird
– seine Weltsicht ist nämlich zu festgefügt, als
daß sie selbst unter solchen Umständen ins Wanken geraten
könnte. Das muß indessen nicht positiv zu bewerten sein,
denn daraus geht eindeutig hervor, daß seine
Wirtschaftsdiktatur milde, wenn nicht gar menschenfreundliche
Merkmale tragen wird – so würde er wahrscheinlich eine
Vielzahl ethnischer Konflikte auf salomonische Art und Weise beilegen

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