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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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Angst oder
Kälte oder was auch immer, und sie fährt ihm sachte
über das Haar.
    Wenn sie das hier überleben sollte, wird sie gegen
sämtliche Prinzipien verstoßen und sich selbst Kinder
anschaffen. Sie wurde in dem Glauben erzogen, daß die
Weltbevölkerung drastisch schrumpfen müsse und daß
höchstens drei Prozent der Bevölkerung Kinder haben
dürften, wobei der Rest sterilisiert werden sollte… aber
trotz des Drucks ihrer Eltern hat sie sich diesem Eingriff nie
unterzogen. Da sitzt sie jetzt hier mit anderer Leute Kinder, und
wenn sie es überstanden hat, will sie selbst welche haben.
Außerdem wird die Welt sowieso deutlich entvölkert werden,
bevor das alles vorbei ist.
    Und überhaupt ist das eine interessante Frage. Was will Naomi
überhaupt? Naomi ist dahingehend erzogen worden, gar nichts zu
wollen, keine Bedürfnisse oder Wünsche zu hegen, wodurch
wertvolle Ressourcen vergeudet würden.
    Aber sie weiß nicht einmal, was ihr dadurch alles
entgeht.
    Etwas – Gott weiß was, ein Teil eines Autos oder eines
Zaunes, ein großes Hagelkorn oder vielleicht auch nur ein Stein
– dringt zwei Meter über ihnen und etwa fünf Meter
links von ihnen durch die Mauer. Der Wind heult mit einem tiefen
Baß durch das Loch und bringt die ganze Mauer und den Boden zum
Vibrieren.
    Schließlich glaubt sie, die Ursache erkannt zu haben und
versucht, den Kindern die Erklärung ins Ohr zu schreien. Jesse
hatte ihr einmal erzählt, daß Dinge mit Löchern dem
Wind mehr Widerstand entgegensetzen; sie hat es zwar nicht ganz
verstanden, aber es scheint zu stimmen, denn sie spürt,
daß die Mauer sich ganz leicht krümmt und dann wieder in
die Vertikale geht.
    Das Beben, das sie in den Beinen und im Po spürt, sagt ihr,
daß soeben ein großer Teil der Mauer eingestürzt
ist.
    In weiter Entfernung – wenige Zentimeter von ihren Ohren
– hört sie Luisas Schreie. Compañero ruft etwas, das
sich nach einem Gebet anhört. Maria, die sich an ihren
Rücken gedrückt hat, schluchzt oder lacht hysterisch –
auf jeden Fall kommt ihr Atem stoßweise –, und Linda, die
an ihrer anderen Seite lehnt, ist anscheinend die einzige, die
überhaupt nichts sagt, aber ihre Körperhaltung
läßt den Schluß zu, daß sie ohnmächtig
geworden ist – oder ist sie von etwas getroffen worden, das die
Mauer durchstoßen hat? Nein, dann würde man nämlich
den Wind durch das Loch pfeifen oder brüllen hören.
    Die Zeit verstreicht unter dem düsteren Himmel, und bis auf
den fortwährenden Lärm geschieht nichts mehr. Es bleibt
dunkel. Naomi fragt sich, wie lange sie schon hier sitzen; es war
vielleicht vierzehn Uhr, als es ganz dunkel wurde, und gegen
zwölf Uhr mittags hatte sie zum letztenmal auf die Uhr
geschaut…
    Sie hält sich die Uhr dicht an die Augen, wobei sie darauf
achtet, Luisa nicht loszulassen, die sich wie ein Opossum an sie
geklammert hat. Es gelingt ihr, den Knopf für die
Skalenbeleuchtung zu drücken. 16:57 Uhr. Drei Stunden sind also
vergangen. Vielleicht hat sie sogar geschlafen und geträumt.
    Die Zeit verstreicht, und es wird noch dunkler, wobei alles vom
tiefen Heulen des Windes überlagert wird. Naomi hat keine
Ahnung, wie weit die Mauer schon zerstört ist, aber sie versucht
den Vorgang von Jesses Warte aus zu betrachten und gelangt dann zu
dem Schluß, daß sie noch stehen muß, denn sonst
wäre ihr Abschnitt auch schon zerstört worden. Als sie
erneut auf die Uhr blickt, ist es 05:48 Uhr. Diesmal muß sie
länger wach gewesen sein.
    In Gedanken erstellt sie Speisepläne und überlegt sich
Reiseziele. Sie schwört sich, daß sie sich wenigstens
einmal, in einer fremden Stadt, zu einem Lustobjekt umformen lassen
und dann ein paar Tage dort umherspazieren wird, um sich von den
Männern anstarren zu lassen, nur um zu sehen, was für ein
Gefühl das ist. Schließlich kann sie den Versuch ja
abbrechen, wenn es ihr nicht gefällt.
    Sie wird eine Wanderung ohne XV-Begleitung unternehmen. Sie
möchte wieder in der Wüste bumsen, vielleicht mit einem
anderen als Jesse. Vielleicht auch mit Jesse und einer dritten
Person, denkt sie und kichert dabei. Sie fragt sich, warum sie
angesichts der Möglichkeit, jeden Moment wie ein Insekt auf der
Windschutzscheibe zu zerplatzen, so viel Gefallen an solchen Gedanken
findet.
    Rein hypothetisch stellt sie sich vor, Giftmüll in einer
unberührten Wildnis zu deponieren und die letzten Menschenaffen
der Erde mit einem Knüppel zu erschlagen. Sie findet diese
Erwägungen zwar nach wie vor

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