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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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die Suche nach der Stelle begeben, wo Luisas Haus
gestanden hatte, erkennt Naomi, daß die Stadt Tehuantepec nicht
mehr existiert. Der Wind hat Schneisen freigeblasen, die indessen
nicht immer der Straßenführung entsprechen; manche
Straßen sind unter drei bis vier Meter hohen Schutthalden
begraben. Oft stoßen sie in dieser Trümmerlandschaft auf
Straßennamen und sind so in der Lage, ihre Position zu
bestimmen, aber sie laufen lange Zeit rufend im Kreis herum, bis
ihnen schließlich bewußt wird, daß, obwohl sie
vielleicht dicht dran waren, keine Hoffnung besteht, Luisas Haus zu
finden.
    Naomi wünschte, Luisa würde weinen. Die Augen des
Mädchens weiten sich und nehmen einen starren Ausdruck an, sie
steckt den Daumen in den Mund und packt Naomi am Handgelenk, aber sie
weint nicht.
    Das Elternhaus von Compañero war groß; Teile der
Mauern stehen noch. Und dann erfährt sie auch Compañeros
richtigen Namen, als der Vater des Jungen, der gerade Schutt vor
einer Kellertür wegräumt, aufschaut und »Pablo!«
ruft.
    Sie drückt Luisa fest an sich, während Vater und Sohn
sich umarmen und beide eine Erklärung stammeln; als der Vater
von Compañero – nein, Pablo, sie wird ihn von nun an mit
seinem richtigen Namen anreden –, als Pablos Vater ihr also
überschwenglich die Hand schüttelt, gestattet sie sich
sogar ein gewisses Gefühl des Stolzes. Noch besser, er hat einen
tiefen Keller, dessen Decke mit am Boden fixierten Holzbalken
abgestützt ist. Außerdem hat er mehrere Autobatterien in
Reihe geschaltet, so daß der Keller zumindest trübe
erleuchtet ist. Es gibt einen Tank mit dreitausend Litern
Trinkwasser, reichlich dehydrierte Nahrungsmittel, die er aus einem
Geschäft in der Nähe ›organisiert‹ hat, und eine
aus einem Eimer und einer Sitzauflage improvisierte chemische
Toilette mit etlichen Litern Bleichlauge.
    Pablo wird zu Hilfsarbeiten abgestellt, und die anderen
durchstreifen die Nachbarschaft nach Leuten, die einen sichereren
Schutz benötigen. Naomi versucht, die Familien von Maria und
Linda ausfindig zu machen – die beiden sind Cousinen und haben
im selben Haus gewohnt. Außerdem wird sie jeden mitbringen, der
einen Platz braucht; kurzfristig bietet der Keller ohne weiteres Raum
für fünfzig Menschen, vor allem dann, wenn sich in der
Stunde vor dem Wiederaufleben des Sturmes genügend Leute an
seinem Ausbau beteiligen.
    Sie bricht mit den drei Mädchen auf. Es ist ein unglaublich
heißer Abend. Der tiefblaue Himmel kontrastiert mit den
weißgrauen Trümmerhaufen, was der üblichen
Farbpalette von Tehuantepec entspricht; erst nach einem Moment
fällt ihr auf, daß das satte Grün der Bäume, der
bewässerten Rasenflächen und Parkanlagen fehlt. Der Sturm
hat alles vernichtet; es steht keine einzige Palme mehr, und die
wenigen Büsche, die nicht entwurzelt und weggewirbelt wurden,
sind völlig kahl.
    Von überallher tauchen die Menschen auf, aus Kellern und
Innenräumen, die durch dicke Wände geschützt waren.
Einige moderne Gebäude haben dem Druck standgehalten,
überwiegend jene, die dem traditionellen südmexikanischen
Stil nachempfunden wurden; ihre massiven Mauern bestehen aus
Stahlbeton und haben nur wenige oder überhaupt keine Fenster auf
der Süd- und Westseite. Sie spricht mit vielen Menschen, aber
die meisten haben gerade erst die Schutzräume verlassen und sind
nicht über die aktuelle Lage informiert. Einem Mann ist es
gelungen, ein Videosignal von einem Satelliten zu empfangen; er hat
die durch das Auge des Hurrikans geschaffene Ruhezone genutzt und auf
einem dem Satelliten zugewandten Hang eine Wäscheleine aus
Metall schleifenförmig ausgelegt.
    Das ist ein weiterer Bereich, in dem Naomi gern besser Bescheid
wüßte, um so etwas auch tun zu können, aber der Mann
hat nur in Erfahrung gebracht, daß die Welt dort draußen
über die Vorgänge hier informiert ist und daß das
Zentrum des Auges etwa zwanzig Kilometer nördlich die Küste
erreicht hat. Die momentane Prognose, soweit das anhand einer
Landkarte und eines Taschenrechners überhaupt möglich ist,
besagt, daß ›Clementine‹ sich etwas verlangsamt und
ihnen somit noch etwa eine Stunde und zehn Minuten bleiben, bis der
Sturm an der Randzone des Auges wieder mit einer Stärke von
über 40 Beaufort über sie hereinbricht.
    Maria und Linda stoßen auf eine Tante und eine Cousine,
beziehungsweise eine Tante von Maria und eine Cousine von Linda, und
sie trennen sich, um sich ihren jeweiligen Familien in einem
großen

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