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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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Schutzraum anzuschließen, den der ganze Clan
improvisiert hat.
    Also ist nur noch Luisa übrig, und als die anderen
Mädchen gegangen sind, fängt Luisa an zu weinen. »No llores«, murmelt Naomi, bis ihr dann der Unsinn
dieser Worte bewußt wird, denn das kleine Mädchen
muß den Tränen freien Lauf lassen, und außerdem
hält Luisa sie dadurch nicht auf. Sie geht wieder zu Pablos Haus
zurück.
    Es ist warm, der Himmel blau, und wäre da nicht das
schluchzende Kind – und die Trümmerlandschaft, die an
Berlin, Hiroshima oder Port-au-Prince auf alten 2-D-Photos des
vorigen Jahrhunderts beziehungsweise an Washington nach dem Blitz erinnert – Naomi würde die Wärme und das Licht
fast genießen. Sie nimmt es in sich auf, wie sie die Tasse mit
frischem Wasser trinkt, die ihr von einer Frau angeboten wird, die
große Eimer schleppt – gierig, bis zur Neige, im
Bewußtsein dessen, was kommen wird.
    Zwei Dinge erstaunen sie indes: daß nur wenige Leute,
vielleicht zehn, das. Angebot eines guten Schutzraumes annehmen und
daß kaum jemand versucht, Verschüttete aus den
Trümmern zu bergen. Schließlich wendet sie sich an einen
großen, muskulösen Mann, der ihr vage als
stellvertretender Vorsitzender des örtlichen
Pächterverbandes in Erinnerung ist. »Das habe ich mich auch
schon gefragt«, erwidert er seufzend. »Aber jetzt, wo ich
darüber nachdenke, sucht sich kaum jemand einen besseren Schutz,
weil die alten Zufluchtsorte ja auch schon ziemlich gut sein
müssen, wenn sie den Sturm bisher überstanden haben;
andernfalls wären die Menschen, die nur unzureichend oder gar
nicht geschützt waren… nun, sie wären einfach nicht
mehr hier. Und selbst wenn man einen Verwandten oder Freund
ausgräbt, stellt sich die Frage, ob er oder sie überhaupt
noch lebt, ob es einen Arzt, Medikamente oder sonst irgendwelche
Hilfe gibt. Und die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß er
oder sie nicht mehr lebt… und was geschieht dann mit den
Leichen? In den Schutzräumen dürfen sie wegen der
Seuchengefahr nicht gelagert werden. Sie einfach auf die Straße
legen, geht auch nicht – der Sturm wird sie auf
Nimmerwiedersehen verschwinden lassen. Und wir haben auch keine Zeit,
Gräber auszuheben. Also bleiben die Leichen am besten, wo sie
sind… und wenn es wirklich noch Überlebende unter den
Trümmern gibt… nun, sie sind die längste Zeit am Leben
gewesen. Vielleicht halten sie ja auch durch, bis wir sie bergen. Das
klingt zwar sehr hart, aber andere Möglichkeiten bestehen
nicht.«
    Sie nickt, und beim Weitergehen sagt Luisa: »Unser Haus hatte
an der Südseite ein großes Aluminiumfenster von Sears. Es
war Mamas ganzer Stolz, aber die Leute von Sears hatten es nicht sehr
gut montiert. Sie sagten, sie könnten den Rahmen nirgendwo
richtig befestigen…«
    Naomi legt den Arm um das Kind, und Luisa weint sich an ihrer
Schulter aus. »Ich bin ja da, und du kannst bei mir bleiben. Und
vielleicht finden wir deine Mutter doch noch. Die Türen einiger
Schutzräume sind blockiert, so daß die Leute zwar in
Sicherheit sind, abernicht hinauskommen. Aber du kannst bei mir
bleiben, solange es nötig ist. Und solange du bei mir bist,
werden wir zusammen nach deiner Mutter suchen.«
    Dadurch versiegen Luisas Tränen zwar noch nicht, aber
immerhin schwächt das Weinen sich zu einem Schniefen ab. Eilig
suchen die beiden den Schutzraum auf; am Horizont kriecht bereits der
Rand des Auges über das Land, eine dunkle Wolkenwand, und die
Sonne wird gleich ausgeblendet werden.
    Als sie sich dann in Sicherheit befinden, nimmt Naomi sich vor,
die nächsten zwei Wochen überhaupt nichts zu tun,
höchstens Dinge, die ihr Spaß machen, bei denen sie
früher jedoch immer Schuldgefühle verspürte. Und jeden
Abend wird sie ihre Eltern anrufen und sie mit detaillierten
Meldungen schockieren. Sie lacht über diese Vorstellung, wobei
es ihr egal ist, ob jemand das sieht oder falsche Schlüsse
daraus zieht. Unglaublich, daß sie erst dem Tod ins Auge sehen
mußte, um ein Leben nach ihren Vorstellungen zu
führen.
     
    John Klieg quittiert den Bericht aus Mexiko mit einem
Lächeln. Die Starteinrichtung der mexikanischen Regierung hatte
nicht genügend Kapazitäten, eine substantielle Nutzlast ins
All zu schicken, und außerdem handelte es sich nur um eine
Franchise-Kopie einer normalen japanischen Startanlage. Nein, seine
Meteorologen verheißen ihm den ersten Preis – das Auge von
›Clem Zwei‹ wird direkt über die Landenge von
Tehuantepec hinwegziehen, in die

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