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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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es
ihr erklären könnte. Wenn die Mauer nicht bis auf ihre
Höhe abgetragen wird – sie hofft inständig, daß
das nicht eintritt, und sagt es auch den Kindern –, dann
könnten sie genauso gut hierbleiben, bis sich das Auge über
ihnen befindet, und sich dann nach einer besseren Deckung umsehen.
Aber wenn die Mauer doch ganz zerstört wird, dann müssen
sie bis zu ihrem Ende kriechen, bevor der Wind noch stärker
wird, und versuchen, über die Straße zu der ein paar Meter
entfernten kleinen Kathedrale zu gelangen – die wird dem
Sturm sicher standhalten. Sie weiß jedoch nicht, wie sie die
Kinder dorthin bekommen soll, ohne daß sie vom Wind mitgerissen
oder von herumfliegenden Trümmern erschlagen werden, die wie
Kanonenkugeln gegen die andere Seite der Mauer prasseln und sie zum
Schwingen bringen.
    Tehuantepec hat ihr immer gefallen, obwohl der hiesige Zócalo nicht gerade repräsentativ ist; auch die
sonstige Architektur der Stadt ist nicht unbedingt
überwältigend, und die Meeresfrüchte, die in den
Restaurants serviert werden, sind nicht besser als anderswo an der
Küste. Es ist eben nur eine kleine Stadt mit einem Busbahnhof,
in dem Durchreisende umsteigen, und die Einheimischen arbeiten als
Straßenbauer oder auf den umliegenden Bauernhöfen…
eine Kleinstadt wie jede andere auch…
    Bei dem Wort ›Kleinstadt‹ muß sie wieder an Jesse
denken. Obwohl er sich in solchen Situationen vielleicht auch nicht
besser bewährt als jeder andere, muß sie sich dennoch
eingestehen, daß seine Krähwinkel-Attitüde, wonach er
glaubt, aufgrund der bloßen Fähigkeit, einen Reifen zu
wechseln oder einen Felsen zu erklimmen, auch eine Rakete fliegen
oder einen Atomreaktor bauen zu können, gerade jetzt so beruhigend wirken würde. Außerdem würde ihm in
dieser Situation vielleicht noch mehr einfallen als ihr.
    Sie ist froh, daß ihre Mutter nicht Zeuge dieser
Überlegungen ist.
    Luisa, die Kleinste, schmiegt sich eng an sie und fragt, wobei sie
gegen den Wind anschreien muß, ob sie jetzt alle sterben
werden. Naomi streicht dem Kind über das Haar, wobei sie dem
Drang widersteht, ›noch nicht‹ zu sagen, und ruft ihr statt
dessen zu, daß sie keine Angst zu haben brauche, sie
würden nur sehr naß und schmutzig werden. Sie ist sich
indessen nicht sicher, ob Luisa sie bei dem tosenden Wind und Regen
überhaupt verstanden hat.
    Über ihren Köpfen löst sich ein großes
Mauerstück, und Sand rieselt auf sie herunter, aber der Brocken
– sechzig Zentimeter mal ein Meter zwanzig – verschwindet
horizontal im strömenden Regen. Naomi hört das
Mauerstück nirgendwo aufprallen. Vielleicht ist es in
großer Entfernung heruntergekommen, oder vielleicht sind die
Windgeräusche auch lauter, als sie gedacht hatte.
    Die Kinder drängen sich noch dichter aneinander, und Naomi
versucht, so weit wie möglich an der Mauer herunterzurutschen,
ohne sich zu weit auszustrecken. Der Himmel verdüstert sich, und
der Donner wird lauter, bis sie schließlich mit den an sie
gedrückten Kindern und ihren Gedanken isoliert ist.
    Ihr geht vieles durch den Kopf. Obwohl der Donner, die gegen die
Mauer prasselnden Steine und die Dunkelheit sie gleichermaßen
ängstigen, verspürt sie im Augenblick keine Schmerzen,
sondern nur Unbehagen; da sie jetzt weder für sich noch für
die Kinder etwas tun kann, hat sie viel Zeit zum Nachdenken. Am
liebsten würde sie schlafen – wenn sie das überstehen
sollte, will sie ausgeruht sein, und wenn nicht, wäre es besser,
im Schlaf zu sterben.
    Sie läßt einen Streit vor ihrem geistigen Auge
ablaufen, den sie mit Jesse hatte und bei dem sie ihm
nachträglich recht geben muß; früher oder später
wäre das ohnehin passiert. Unter dem Meeresboden und im
Permafrostboden der Tundra existieren viele Methan-Lagerstätten,
und früher oder später hätte ein Vulkanausbruch, ein
Meteoreinschlag oder auch nur die zunehmende Erwärmung der Erde
selbst die Freisetzung dieses Methans bewirkt. Niemand war darauf
vorbereitet, und es darf bezweifelt werden, daß auch nur einer
der verantwortlichen Politiker mit einer akzeptablen Option
hätte aufwarten können.
    Jetzt, da sie hinter dieser einstürzenden Mauer hockt,
bekommt sie eine gewisse Vorstellung von ›inakzeptablen
Optionen‹.
    Der Junge, den alle nur ›Compañero‹ nennen –
seinen richtigen Namen kennt Naomi nicht, aber er ist der Sohn des
Ortsvorsitzenden der Kommunistischen Partei und ein richtiger
Störenfried im Ausbildungszentrum – zittert vor

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