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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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abscheulich, aber dennoch dienen
sie ihr als Ventil: sie kommt sich jetzt nur noch selbstsüchtig
vor, nicht mehr böse.
    Sie ist konditioniert worden, beides gleichzusetzen. Aber sie
hofft nun, daß sie sich an die Verschiedenartigkeit dieser
Begriffe erinnert, wenn sie das alles hinter sich hat.
    Das nächstemal, wenn ein Typ sie auf einer Party anzumachen
versucht, indem er auf sie eingeht und ihre Äußerungen
bedacht und nuanciert kommentiert, wird sie eine Weile mit ihm
spielen und dann mit einem anderen Kerl verschwinden, nach
draußen gehen und tanzen, und sie werden um drei Uhr morgens
auf der Straße singen und die Leute aufwecken.
    In ihrem bisherigen Leben hat sie ein Vergnügungsdefizit zu
verzeichnen. Das ist sie ausgleichen entschlossen – wenn das
Schicksal ihr gnädig gestimmt ist.
    Wenn sie schon dabei ist, wird sie auch viele Bücher lesen,
die auf dem ›zentrisch-linearen‹ Index stehen, den diverse Deeper- Gruppen erstellt haben, um ihre Mitglieder vor
›oberflächlich plausiblen Werken‹ zu warnen, die
›gefährlichen ideologischen Überzeugungen Vorschub
leisten‹. Vielleicht wird sie Huckleberry Finn lesen; sie
weiß nur soviel über dieses Buch, daß zwei Jungen an
warmen, sonnigen Sommertagen mit einem Floß einen Fluß
befahren. Die Vorstellung von warmen, sonnigen Sommertagen übt
eine schier magische Anziehungskraft auf sie aus.
    Fliegenfischen. Sie wird sich an Fliegenfischen versuchen. Das
scheint eine sehr kontemplative Beschäftigung zu sein.
    Und vielleicht wird sie auch wissenschaftliche Bücher lesen.
Sie versteht zwar nicht viel von dieser Materie, aber es wird sicher
nichts schaden.
    Es gibt so vieles, was sie für sich tun könnte, wenn sie
nur wollte. Und für andere Menschen könnte sie auch noch
mehr tun.
    Sie hat die vage Vorstellung, daß ihren Eltern das nicht
gefallen wird. Aber was soll’s.
    Dann ertönt ein Donnerschlag, gefolgt von einem blendenden
Licht. Ihr erster Gedanke ist, daß es sich um einen Blitz
handelt, ihr zweiter, daß sie einen Effekt aus dem Reich der
Toten erlebt, und dann identifiziert sie es als…
Sonnenlicht.
    Mit Getöse ergießt sich ein Regen aus Sand, Steinen und
Trümmern über sie. Alle drängen sich dicht an die
Mauer, und nur Maria wird von einem kleinen Stein am Knöchel
getroffen; sie schreit zwar auf, aber es scheint nichts Schlimmes zu
sein. Ein paar Meter entfernt kippt ein noch durch Mörtel
verbundener Mauerrest um und fällt in den Schlamm, wobei er sie
alle mit Dreck bespritzt. Sie warten noch eine Minute, bis sie
aufstehen und die Kleidung säubern.

Die Fünf schauen staunend nach oben. Die entgegengesetzte
Mauer ist völlig eingestürzt, wobei sie diesen Vorgang bei
dem ganzen Chaos nicht einmal mitbekommen haben; Naomi gratuliert
sich selbst zur Wahl ihrer Mauer. Die Kathedrale auf der anderen
Straßenseite ragt aus großen Schuttbergen empor; der
Glockenturm und der größte Teil des Daches sind zwar
abgeschert, aber sie steht noch.
    Warmes Sonnenlicht spielt über die zerstörten
Häuser und leergefegten Straßen, und Naomi steigen die
Tränen in die Augen. So ein schöner Anblick…
    »Mama?« sagt Luisa zögernd und ergreift Naomis
Hand. Vor dem Ausbruch des Sturms waren die Kinder im Gebäude
der Stadtverwaltung gewesen, und sie waren die einzigen, die nicht
von ihren Eltern abgeholt wurden, bevor das Wetter alle
Aktivitäten lähmte. Naomi hat sich ihrer in der Hoffnung
angenommen, daß die Busse, die dann nie kamen, auch nach
versprengten Leuten Ausschau hielten, denn in Tehuantepec war sie gar
nicht registriert – sie ist in Oaxaca gemeldet.
    Naomi geht in die Hocke. »Wir schauen mal, ob wir deine
Mutter finden«, sagt sie auf spanisch, »und die Eltern von
den anderen, aber wir haben nur ein paar Stunden, bis der Sturm
wieder losbricht. Und vorher suchen wir uns einen schönen,
sicheren Keller mit etwas zu essen und einer Toilette.«
    Wie sie da so hockt und von einer Toilette spricht, wird ihr
bewußt, daß es bei ihr selbst pressiert, und während
der nächsten fünf Minuten erleichtern sie und die
Mädchen sich an der einen Seite der Mauer, und Compañero
tut auf der anderen Seite vermutlich das gleiche. Unter dem Eindruck
gewisser Ereignisse verändern Menschen sich tatsächlich,
überlegt sie. Compañero gehört nämlich zu der
Sorte böser Buben, die sich normalerweise bei der Verrichtung
der gringa und der Mädchen als Voyeur betätigt
hätten. Aber vielleicht mußte er wirklich mal.
    Als sie sich auf

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