Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
Vom Netzwerk:
hinaufgefahren;
wenn der Regen an den Hängen der die Stadt umgebenden Vulkanen
zu Tal strömt, wird es vielleicht auch gefährlich, aber die
Aussichten sind gut, daß Oaxaca mit kleineren Sturmschäden
davonkommt – in den Nachrichten (sein Bruder Di tritt
anscheinend jede Nacht im Fernsehen auf, denn diese Reporterin,
Berlina Jameson, interviewt ihn ständig) war sogar davon die
Rede, daß der Sturm sich oben in den Bergen vielleicht
totläuft.
    Der Wind bricht sich heulend an den Mauern, und ein leichtes Beben
geht durch das Gebäude. Tomás dreht sich zu Jesse um und
sagt auf spanisch: »Wir beide sollten vielleicht das Dach
sichern. Das ist nämlich noch nicht geschehen.«
    Jesse weiß zwar nicht, wovon Tomás spricht, nimmt
aber an, daß dieser mehr weiß als er selbst. »In
Ordnung«, meint er also, »doch womit sichern wir
es?«
    »Da liegt« – ein Jesse unbekanntes spanisches Wort
– »draußen in meinem Lieferwagen; ich werfe eine
Münze, und der Verlierer läuft hinaus und holt
es…«
    »Ich bin eh schon patschnaß«, sagt Jesse.
»Und was ist…?«
    Es dauert eine Weile, bis Jesse erkennt, daß die Bezeichnung
des besagten Gegenstands ›Schleppleine‹ lautet – ein
dünnes Drahtseil. Tomás benötigt die ganze
große Rolle; seinen Werkzeugkasten hat er schon im Haus, in dem
sich die erforderlichen Drahtscheren, Schraubstöcke und
Hohlkeile befinden. Er wollte gerade selbst hinauslaufen, als Jesse
und Mary Ann erschienen.
    Das Fahrzeug steht hinter dem Haus, wo es vor der unmittelbaren
Wucht des Sturmes geschützt ist. Die Bergung des Seils gleicht
einem Sprung in ein Schwimmbecken mit kaltem Wasser; schon nach dem
ersten Schritt ist Jesse wieder tropfnaß. Dann packt ihn der
Wind von hinten und wirft ihn zu Boden, noch bevor er auf den
glitschigen Kieselsteinen die Balance gefunden hat. Das kalte Wasser
umspült Arme und Beine, als er den Kopf nach unten neigt, um
Luft zu holen; dann rennt Jesse zum Fahrzeug, und als er gegen die
Tür geworfen wird, hat er bereits kein Gefühl mehr in den
kalten und stechenden Händen. Glücklicherweise hat die
Kiste eine Schiebetür, denn er bezweifelt, daß er in
diesem Wind eine Tür nach außen ziehen könnte.
    Japsend reißt er die Tür mit einem heftigen Ruck auf,
steigt in das Fahrzeug und zieht sie hinter sich wieder zu, wobei die
eine Sekunde aber schon genügt, das Innere des Lieferwagens zu
fluten. Zum Glück hatte er eine Taschenlampe in den Rucksack
gesteckt – obwohl es erst gegen dreizehn Uhr ist –, aber
jetzt ist er froh, daß er sie dabei hat. Hier drinnen ist es
dunkler als in einer normalen Nacht.
    Er findet die große Drahtrolle an der von Tomás
bezeichneten Stelle und wuchtet sie sich auf die Schulter.
    Der Lieferwagen erzittert ein paarmal heftig; der Wind ist zwar
nicht stark genug, um ihn umzustürzen, aber es reicht, um ihn
ordentlich durchzuschütteln. Er holt tief Luft…
    Der Rückweg zum Haus gestaltet sich viel schwieriger –
er muß nämlich gegen den Sturm ankämpfen. Er verliert
zwar nicht das Gleichgewicht, aber er schlittert auf den Steinen, als
ob er in einem Gebirgsbach gegen die Strömung waten würde.
Außerdem prasselt der Regen so heftig gegen die Brust,
daß ihm das Atmen schwerfällt. Als er losrennt, erkennt er
das weniger als fünfzehn Meter entfernte Haus nur schemenhaft,
und der Regen nimmt ihm dermaßen die Sicht, daß er erst
einmal neben der Tür gegen die Mauer läuft, bevor er das
Haus betritt.
    Tomás grinst ihn an. »Die nächsten Jahre werden
Sie wohl kein Bad mehr nötig haben.«
    Jesse atmet tief durch und erwidert: »Wollen wir wetten, wie
lange es dauert, bis der Bus nach San Cristóbal ohne uns
abfährt?«
    Tomás lacht. »Ich habe noch eine Idee. Das Dach wird
schon nicht wegfliegen, während Sie sich umziehen; warum
erledigen Sie das also nicht…«
    »Nun, wenn wir noch einmal an den Lieferwagen müssen,
tun wir das am besten, solange ich noch naß bin.«
    »Es erscheint mir aber zu herzlos, Sie wieder in dieses
Unwetter hinauszuschicken, vor allem deswegen; weil man unter das
Fahrzeug kriechen müßte, um Gurte unter dem Boden
durchzuführen…«
    »Wollen Sie den Wagen etwa festzurren? Warum fahren wir ihn
nicht dicht ans Haus heran und sichern ihn dort?«
    Tomás stutzt und kratzt sich nachdenklich am Kopf.
»Das wäre sinnvoller«, gibt er schließlich zu.
»Aber womit sollen wir das Fahrzeug dann sichern?«
    »In der Waschküche stehen doch leere
Zweihundert-Liter-Fässer, nicht wahr? Wenn

Weitere Kostenlose Bücher