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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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wird.
    Es bleiben noch vier Minuten, als der Muezzin – eine Stunde
zu früh, aber den allerwenigsten Leuten wird das auffallen
– die Gläubigen zum Gebet ruft. In diesem Teil der Stadt
kniet der wogende Mob, der Bodensatz des Zweiten Globalen Aufstands,
sich zum Gebet nieder; die geduldigen Flüchtlinge und Musharaf
selbst rollen ihre Gebetsteppiche aus, so sie einen besitzen, oder
verneigen sich nur in Richtung Westen, wo Mekka liegt.
    Die große Welle kommt aus dem Hinterhalt, von Südosten,
und sie ist über ihnen, bevor die Menschen sich noch erheben
können. Musharaf tröstet sich mit dem Gedanken, daß
seine Chancen, ins Paradies aufgenommen zu werden, durch das abrupt
unterbrochene Gebet sicher steigen.
    Ob das nun zutrifft oder nicht, es ist sehr schnell vorbei; die
schwarze Welle, die bereits mit Zehntausenden von Leichen
gesättigt ist, donnert weiter nordwärts. Erst nach vielen
Kilometern wird sie sich so weit abgeflacht haben, daß eine
Überlebenschance besteht.
    * * *
    Sie befinden sich gerade in Progreso, einer kleinen Stadt unweit
von Pijijiapan, als Passionet Mary Ann schließlich
aufspürt. Jesse weiß, daß sie schon ernsthaft ans
Aufhören gedacht hat, aber weil Mary Ann durch Passionet reich geworden ist, glaubt sie ihnen zumindest ein Gespräch
zu schulden. Er spielt derweil mit Tomás’ Enkelkindern
– zwei von ihnen sind recht gute Fußballspieler, und Jesse
hatte auf der Highschool auch Fußball gespielt, so daß
sie sich auf einem dreieckigen Platz gegenseitig den Ball zukicken,
und nach einer Weile hat er das Eindringen der Realität in sein
Abenteuer wieder ganz vergessen.
    Er erschrickt fast, als Mary Ann mit ihm reden will; eben ist das
Pfeifsignal gegeben worden, wonach in zehn Minuten Abmarsch ist, aber
weil Jesse sich bereits an das Marschieren gewöhnt hat, nimmt er
nur einen Extraschluck Wasser, bevor es weitergeht. Diese Etappe, auf
der die Straße dem Küstengebirge folgt, ist ein grandioser
Wanderweg, und selbst diejenigen, die ihre Häuser wohl für
immer aufgeben, scheinen es zu genießen.
    »Nun«, sagt sie. »Ich weiß, was sie wollen,
und diesmal ist es wirklich etwas anderes. Ich weiß nicht, wie
ich es dir sagen soll. Hast du in den letzten Monaten zufällig
eine von Surface O’Malleys Sendungen gesehen? Sie ist meine
Stellvertreterin, und obwohl sie zu höflich sind, es zu sagen,
ist sie wohl auch als meine Nachfolgerin vorgesehen.«
    »Nein, habe ich nicht. Was hat sie denn mit der ganzen Sache
zu tun?«
    »Nun, vor einigen Tagen hat sie es geschafft, in einer Stunde
gegen sämtliche Dienstvorschriften zu verstoßen, und den
Zuschauern hat es gefallen. Jetzt halten sie es natürlich
für einen Geniestreich und wollen, daß wir anderen es auch
tun.« Während der nächsten Stunde, als sie zur
Bundesstraße 200 hinabsteigen, erklärt sie Jesse die
Hintergründe; einen Tag lang sind sie auf der schmalen, schlecht
asphaltierten Landstraße von Chiapas gewandert, die parallel
zur gut ausgebauten Bundesstraße verläuft, um diese
Straße für dringendere Konvois freizuhalten. Bei ihrem
Tempo hat das auch keinen großen Unterschied gemacht,
höchstens den, daß die Wanderung ruhiger und angenehmer
verlaufen ist, und aus irgendwelchen Gründen wirken die Farmer
und Einheimischen zugänglicher und verkaufen ihnen Melonen und
Mais.
    »Willst du dich also mit ihnen anlegen?« fragt Jesse
schließlich. »Willst du ihnen jetzt suggerieren, mit
offenen Karten zu spielen, wo du ihnen bisher immer vorgegaukelt
hast, falsch zu spielen?« Diese Diagnose hat er sarkastischer
vorgebracht, als er es eigentlich vorgehabt hatte; nun
läßt er den Blick über die unter dem tiefblauen
Äquatorhimmel liegenden grünen Täler schweifen, die
jetzt dort von schwarzen Schlammspuren durchschnitten werden, wo die
von ›Clem Zwei‹ verursachten Erdrutsche und Sturzbäche
die Hänge erodiert haben. Er erkennt, daß er sich nur
darüber ärgert, aus diesem kleinen persönlichen
Paradies vertrieben zu werden, daß das besondere Abenteuer
für ihn und Mary Ann zu Ende geht.
    Sie lacht über seinen Kommentar, aber mit dieser
höflichen Geste will sie eindeutig eine Auseinandersetzung
vermeiden. »Wenn du mir schon so kommst, dann würde ich
sagen, ich muß es tun, Jesse.« Sie ergreift seine
Hand, und es ist so wie immer, der unglaubliche Moment, wo er sie
anschaut und ein Jugendtraum ihn anlächelt, aber gleichzeitig
weiß er auch, daß es die gute, alte,
verläßliche Mary Ann ist, seine Freundin

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