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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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Tiergeschichten und
Reisebeschreibungen. Das ist nämlich interessant und lustig und
unterhaltsam.
    Das wäre aber gar nicht mal so schlimm, wenn das Leben der
Menschen nicht so trist wäre, daß sie dieser Unterhaltung
noch Glauben schenken – und wir erzählen ihnen nun schon
seit hundert Jahren, daß die Welt ein sehr gefährlicher
Ort sei, daß hinter jeder Ecke die Gewaltkriminalität
lauere, daß ständig die Gefahr eines Krieges über uns
schwebe, daß Sex ihr dringlichstes Bedürfnis sei und so
weiter.
    Scheiße, Jesse, wenn du ein Psychiater wärst und einen
Patienten hättest, der nur über Gewalt, Extravaganzen,
Sadismus und seine sexuellen Phantasien sprechen wollte – was
würdest du ihm raten? Mehr davon?«
    Leicht konsterniert fragt Jesse: »Und wo bleibt da die
Pressefreiheit?«
    Sie schnaubt; Jesse empfindet dieses Geräusch
gleichermaßen als lustig und unangenehm. »Tut mir leid,
Jesse«, sagt sie dann, »aber die Zeiten haben sich
geändert. Hältst du die Sender etwa für Benjamin
Franklin, der Flugblätter verteilte, die nur von wenigen gelesen
und von den meisten ignoriert wurden? Schau, ein paar große
Privatunternehmen verdienen ihr Geld mit der Verbreitung von Angst,
Haß, Depression und einer ausbeuterischen Einstellung.
Öffentliche Hinrichtungen im Namen der Gerechtigkeit. Ich glaube
nicht, daß der bloße Appell an die Medien, gute
Nachrichten in den Vordergrund zu stellen, hilfreich ist angesichts
der Tatsache, daß wir mit den Leuten leben müssen, die
diesen Müll glauben. Das ist nur gute Semiotik. Noch besser
wäre es wohl, den Medien überhaupt die Daumenschrauben
anzulegen, aber es ist zumindest ein Schritt in die richtige
Richtung.«
    Jesse läßt den Blick über die bergauf und bergab
führende Straße schweifen; die Spitze der Kolonne erreicht
gerade die nächste Hügelkuppe nach der, auf der die beiden
gerade stehen. »Hier findet ja eine richtige Parade statt. Wann
gehst du also auf Sendung?«
    »In drei Stunden soll per Staticopter ein Agent
eintreffen; man hat die mexikanische Regierung mit einem mobilen
Lazarett bestochen.«
    »Nette Bestechung. Ich hätte da aber an etwas
Persönlicheres gedacht…«
    »Ich bin sicher, daß es auch davon genug gegeben
hat.« Sie tätschelt ihm zärtlich den Rücken.
»Du bist nicht wütend auf mich, oder?«
    »Wütend nicht.« Er scharrt im Dreck und erkennt
sofort, wie kindisch das ist. »Äh«, sagt er,
»könntest du mir das mit der Semiotik erklären? Damit
habe ich selbst als Ingenieur Schwierigkeiten.«
    Sie lächelt ihn an. »Es ist ganz einfach, Jesse; der
XV-Multiplikator ist immer privilegiert – die Leute
identifizieren sich mit seinen oder ihren Werten. Seit Jahren hat man
schon davor gewarnt, Morde, Vergewaltigungen und so weiter nur aus
der Perspektive des Täters darzustellen, weil die Zuschauer
dadurch Gefallen an der Rolle des Aggressors finden. Deshalb
müssen wir nur die Irren und Mörder, die Randalierer und
diejenigen, die zur Verschärfung des globalen Notstands
beitragen, mundtot machen. Sie bekommen kein Forum mehr. Wenn sie
sich in den Aufstand einklinken wollen, prallen sie gegen eine Mauer
aus Ablehnung, ohne das Geringste zu erreichen. Oder, wenn es dir
lieber ist, wir deprivilegieren den Aggressor.«
    Jesse versteht, was sie sagen möchte, wobei das Problem
für ihn nur darin besteht, daß er nach wie vor den
Eindruck hat, es soll eine ›einseitige Berichterstattung‹
durchgesetzt werden. Aber er formuliert die Frage vorsichtiger:
»Wird es denn funktionieren?«
    »Das sollte es lieber.«
    Dem stimmt er zu; wenn die Regierung schon die Medien
kontrolliert, dann wenigstens für einen guten Zweck.
»Hoffentlich funktioniert es. Ich werde dich
vermissen.«
    »Mich vermissen? Ich gehe doch gar nicht fort. Ich meine, nur
nach Oaxaca, aber es wird noch Wochen dauern, bis wir dort
ankommen.«
    Verwirrt stammelt er: »…aber ich dachte… ich meine, Passionet würde doch nicht…«
    »Sie waren nicht vorher schon da, nein. Aber jetzt sind sie
es. Sie wollen den Marsch nach Oaxaca aus der Perspektive von Mary
Ann Waterhouse miterleben, ohne schwülstige Emotionalität.
Mir ist sogar der Gedanke gestattet, daß die großen
Titten, die sie mir angenäht haben, auf einem langen Marsch in
dieser Hitze wirklich lästig sind.«
    Ihm fällt dazu nichts ein, so daß er sie einfach
umarmt; sie drückt ihn auch und sagt: »Hast du also
geglaubt, die alte Kuh loszuwerden, nachdem du sie gemolken
hast?«
    »Überhaupt

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