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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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hätte ändern wollen,
dann hätte das schon viel früher geschehen müssen. Im
Moment versuchen Musharaf und seine Kompanie nur, den ghat zu
halten, die Stufen, die zum Rupsa-Fluß hinunterführen, und
eine Anlegestelle für das Luftkissenboot zu sichern, das die
Menschen in das Hochland der indischen Provinz Assam evakuiert. Die
Aktion läuft schon seit drei Tagen, als sich abzeichnete,
daß ›Clem 114‹ die Bucht von Bengalen heimsuchen
würde.
    Außerhalb des von Musharafs gehaltenen Sektors befinden sich
Zehntausende von Menschen, von denen manche schreien und Steine
werfen und andere nur apathisch auf den ghat starren. Viele
tragen Haarnetze, so daß sie simultan auch in London den Leuten
den Kopf einschlagen, einen Familienbetrieb in Dayton in Brand setzen
und die Leichen in Manila fleddern.
    Nur sporadisch gibt es Beschuß von Heckenschützen, denn
die Bevölkerung von Bangladesh ist so arm, daß sich
praktisch niemand eine Waffe leisten kann. Das ist zumindest ein
gewisser Trost.
    Erneut fragt er den Computer ab; die Lage ist unverändert. Es
bleiben ihm nur noch acht Minuten, zirka 1200 Mütter mit ihren
Kindern an Bord des am ghat liegenden Luftkissenboots zu
bringen. Dann muß das Boot starten. Die große, von
›Clem 114‹ erzeugte Flutwelle rast schon landeinwärts,
und er kann keinen der Armeeposten mehr alarmieren, die in den
Sundarbans, den großen Mangrovensümpfen an der
Südflanke der Khulna-Division stationiert sind.
    Da kommt ihm ein Gedanke. Er nickt seinem Kompaniefeldwebel zu,
der daraufhin salutiert. Er fragt sich, was der Mann wohl von ihm
halten mag. Nun, in vierzehn Minuten wird das keine Rolle mehr
spielen.
    »Holen Sie einen Mullah«, sagt Hauptmann Musharaf.
»Sofort. Irgendwo in der Nähe wird schon einer
sein.«
    Ohne weitere Fragen macht der Feldwebel kehrt und
verschwindet.
    Musharaf nimmt an, daß der Mob völlig ahnungslos ist.
Das Marschland, wo Ganges und Brahmaputra sich vereinigen und ins
Meer fließen, weist die höchste Bevölkerungsdichte
der Erde auf. Bangladesh zählt nicht mehr zu den ärmsten
Ländern der Welt – immer, wenn Musharaf daran denkt,
daß sein Land sich in den letzten dreißig Jahren so
schnell entwickelt hat, daß es Länder wie Sambia und
Paraguay überrundete, die eine viel längere
Entwicklungsphase zur Verfügung hatten, überkommt ihn eine
leichte Aufwallung von Stolz. Aber dennoch nimmt die
Weltöffentlichkeit die demographischen und volkswirtschaftlichen
Daten des Landes nicht zur Kenntnis, und für die Inländer
gilt dasselbe. Die zwei Kilometer hohe Welle, die nun auf sie zurast,
ist nur deshalb so hoch, weil das Kontinentalschelf sich so weit in
die Bucht von Bengalen hinausschiebt. Diese Welle wird auf keinem
Kanal erwähnt oder erörtert, und nur jemand, der die
lokalen Nachrichten hört, weiß überhaupt von ihrer
Existenz.
    Als Kind war er jeden Tag hier – seine Mutter verkaufte an
einem südlich von hier gelegenen Stand sringala, dreieckige, in Gemüseblätter gewickelte durchgebratene
Fleischhappen, und in der Regel paßte er auf den Stand auf,
während sie am Herd stand. Das war eine gute Geschäftsidee,
denn mit den nicht verkauften Exemplaren konnte seine Mutter die
Familie ernähren; sie gingen zwar manchmal todmüde, aber
nie hungrig zu Bett.
    Er würde die Hälfte der ihm noch verbliebenen Minuten
dafür geben, wieder am Stand seiner Mutter zu stehen, den
vertrauten Geruch von Zwiebeln und Pfeffer in der Nase, im Schulbuch
zu lesen, denn sie bestand darauf, daß er während der
Arbeit lernte, und am Ende des Tages mit ihr und seinen Schwestern
die übriggebliebenen sringala zu vertilgen.
    Zwei seiner Schwestern befinden sich bereits in Assam, und die
dritte hat einen reichen Deutschen geheiratet, der nach der
Vertreibung aller Farbigen aus Europa mit ihr nach Ontario
auswanderte. Seine drei Neffen wird er nie sehen… aber
wenigstens sind sie in Toronto, und dort befinden sie sich wohl in
Sicherheit.
    Der Feldwebel erscheint mit einem Mullah, und mit leiser Stimme
erklärt Hauptmann Musharaf ihm die Lage. Der Mullah stimmt
sofort zu und läuft zur nächstgelegenen Moschee. Musharaf
hält es für einen Glücksfall, daß dies ein noch
junger und recht agiler Mullah ist.
    Als der Mullah um die Ecke verschwindet, verliert sich in der
Ferne das Triebwerksgeräusch des letzten Luftkissenboots; die
Leute warten nun geduldig auf das nächste. Nur Musharaf, der
Mullah und jetzt auch sein Feldwebel wissen, daß kein Boot mehr
kommen

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