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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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wie
die Physiker Geschwindigkeit als Positionsänderung in Relation
zur Zeit und Beschleunigung als Geschwindigkeitszuwachs in Relation
zur Zeit definieren, haben in den dreißiger Jahren des
zwanzigsten Jahrhunderts Nemtin und andere Ingenieure auch die
Relevanz der Beschleunigungsänderung in Relation zur Zeit
erkannt und dies als ›Ruck‹ bezeichnet. Und Louie steht ein
Ruck bevor, wie er ihn noch nie erlebt hat.
    Selbst nach mehrtägigem Flug macht er sich noch mehr Gedanken
über die Good Luck als über sich selbst. Er wird in
die an der Wand der Beobachtungskuppel – die sich zeitweise in
die ›Decke‹ verwandeln wird – befestigten Gurte
gepreßt werden, in denen er jetzt noch gemütlich schwebt,
der Kopf wird in den Rückhaltegurt gedrückt, und das Blut
wird ihm in den Kopf schießen, aber alles, was ihn fest- und
die Beobachtungskuppel zusammenhält, wird der Belastung mehr als
gewachsen sein. Außerdem haben gesunde Menschen schon mehr
ausgehalten als das.
    Er ist sich indessen nicht sicher, ob die Gesamtstruktur der Good Luck der Beschleunigung standhalten wird. Schon in den
ersten Tagen sind beim Durchgang der Pakete kleinere Schäden
aufgetreten, und gestern erst hat er zwei Antennen der
Kommunikationseinrichtung verloren. Als Virtuell-Louie könnte er
noch einige letzte Checks durchführen, so daß er
wenigstens beschäftigt wäre, und er empfindet eine leichte
Abneigung gegen die langsamen Reaktionen und die verminderte
Intelligenz im ›Naturzustand‹.
    Es gab einmal eine Zeit, als der Blick aus der Beobachtungskuppel
die eigentliche Motivation für sein Verbleiben an Bord der Constitution darstellte. Jetzt kommt noch hinzu, daß er
im Gegensatz zur immer wieder faszinierenden, aber bekannten Aussicht
auf die Erde ein Panorama vor Augen hat, das er seit der
Mars-Expedition nicht mehr genossen hat. Erde und Mond gemeinsam vor
Augen, die gleichen sichelförmigen Konturen scheinbar dicht
nebeneinander. Die Perspektive ist einzigartig: Erde und Mond stehen
fast hintereinander und werden seitlich von der Sonne beschienen. In
diesem Augenblick ist er ungefähr fünfundsechzigmal so weit
von der Erde entfernt wie der Mond.
    Die Erde ist nicht mehr so eindrucksvoll wie zuvor und erscheint
bei näherem Hinsehen nur als sichelförmig konturierter
Fleck, und der Mond gleicht zunehmend einem hellen Stern, obwohl er
ihn bei intensiver Beobachtung noch immer als Komma statt als Punkt
ausmacht.
    Er versucht sich vorzustellen, wie er sich wohl gefühlt
hätte, als er noch in seinem Körper gefangen war und wie er
sich jetzt fühlen würde, wenn er diese Reise nur als
körperliches Wesen angetreten hätte.
    Diese Überlegungen sind nicht sehr ersprießlich. Obwohl
er rein kognitiv weiß, daß dies der eindrucksvollste
Anblick ist, den er mit seinen menschlichen Augen wahrnimmt, taugen
diese Augen einfach nichts mehr; den kleinen Ausschnitt des Spektrums
von Rot bis Violett, das bescheidene Gesichtsfeld von 165 Grad, das
schmale Frequenzband, innerhalb dessen Signale vom menschlichen
Sehnerv weitergeleitet werden, die Tatsache, daß nur zwei
unabhängige Sensoren in einem Abstand von wenigen Zentimetern
einen Abgleich durchführen – und daß er dazu ein so
großes Gehirn benötigt -; all diese Dinge, die sich seit
dem Paläolithikum nicht verändert haben, vermitteln ihm das
Gefühl, ein Krüppel zu sein.
    Wenn er es mit seinem Radarblick sehen würde, der den
gesamten Frequenzbereich von Radiowellen bis zur harten
Gamma-Strahlung abdeckt, dann wäre es ein wahrhaft
überwältigender Anblick… und dazu bedürfte es nur
eines geringen Teils seiner Prozessorkapazität; er könnte
den Anblick voll genießen, während er sich gleichzeitig
mit anderen Dingen befaßte. Dieses winzige Ein-Personen-Gehirn
reduziert nicht nur Schnelligkeit und Intelligenz; weil es die
immensen Datenströme nicht erfaßt, ist man obendrein blind
und taub.
    Andererseits ist auch ein großes Gehirn nicht unbedingt ein
Ausweis für Intelligenz, denn er hatte eigentlich angenommen,
auf seine organischen Sinne würde ein vorbeifliegendes Paket
eindrucksvoller wirken. Er hat aber auch keine Zeit mehr, die Gurte
zu lösen und wieder in den Virtuellmodus zu wechseln, bevor das
Paket durchgeschleust wird; also muß er hierbleiben. Er
versucht, das Beste aus der Situation zu machen; wer hätte wohl
gedacht, daß man die Sicht im Weltall eines Tages als begrenzt
und trübe empfinden würde?
    Vor der Constitution steht eine Vielzahl

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